Auf die dunkelgrüne Jacke sind mit goldenem Garn Olivenblätter gestickt, und der Degen dient der Verteidigung der französischen Sprache: Mario Vargas Llosa, der Literaturnobelpreisträger von 2010, bei der Aufnahme in die Académie française am 9. Februar 2023 in Paris.
Der Januar 2024 ist etwas Besonderes in Spanien, auch wenn es nicht alle gleich gemerkt haben. Es ist der erste Monat in 33 Jahren, in welchem die Zeitung „El País“ keine Kolumne von Mario Vargas Llosa veröffentlicht. Kurz vor Weihnachten hat sich der peruanische Literaturnobelpreisträger, der eine Wohnung in Madrid hat und die spanische Staatsbürgerschaft besitzt, mit 87 Jahren vom journalistischen Schreiben verabschiedet. Wird er sich daran halten? Wahrscheinlich, aber bei ihm weiß man nie. Auf jeden Fall hat Vargas Llosa, der letzte lebende Vertreter der legendären Generation großer lateinamerikanischer Autoren des 20. Jahrhunderts, genannt „el Boom“, die Bürde der alle zwei Wochen erscheinenden Sonntagskolumne in Spaniens wichtigster Tageszeitung abgeworfen. Von jetzt an hat er frei, sofern er nicht irgendwo auf der Welt noch ein paar Preise einsammeln muss.
Das ist, vor jedem weiteren Gedanken, Anlass für einen tiefen Blick in den Abgrund der Zeit. Bedenkt man, dass Vargas Llosa schon als sechzehnjähriger Schüler in Peru mit dem Journalismus angefangen hat, stehen zu Buche: siebzig Jahre Schreiben für Zeitungen und Magazine! Das heißt weiter: ungezählte Reportagen, Kommentare und Rezensionen, dazu seine zwanzig Romane, ein halbes Dutzend Theaterstücke, die kaum jemanden interessierten, auch wenn er selbst in ihnen auftrat, zahlreiche lange Essays und literaturkritische Schriften, eine Doktorarbeit über García Márquez sowie ein dickes autobiographisches Buch, „Der Fisch im Wasser“, über seinen Präsidentschaftswahlkampf in Peru im Jahr 1990. (Der Versuch, Alberto Fujimori zu verhindern, ehrt ihn bis heute.) Nicht nur ein furioser Schriftsteller mit dem Ethos eines Schwerarbeiters zieht sich zurück – auch einer der ganz wenigen kosmopolitischen Intellektuellen der Gegenwart.
Mario Vargas Llosa im Februar 2023 in Málaga
Der Klub der vier Großen
Dass er diese Rolle überhaupt spielen konnte, ist umso erstaunlicher, wenn man das Land seiner Herkunft bedenkt. Denn Peru zählt auf der Weltkarte wenig jenseits von Trekking, Naturschönheiten und angeblich viertausend Kartoffelarten, von denen nur vierhundert (Amarilla, Blanca, Canchán, Huamantanga, Huayro, Leona, Limeña, Negra andina, Perricholi, Peruanita, Sumac Soncco, Tomasa, Tumbay, Única, Wencco, Yungay und so weiter) einen Namen tragen; Vargas Llosa musste sich also befreien, und diesen Prozess hat er mehrmals in seinem Leben mit Ehrgeiz und Entschlossenheit wiederholt.
Zunächst als Mitglied des wohl berühmtesten literarischen Freundschaftsverbunds des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit Julio Cortázar (Argentinien), Carlos Fuentes (Mexiko) und Gabriel García Márquez (Kolumbien) bildete er mit kaum dreißig Jahren eine power group, aus der das Phänomen der neuen lateinamerikanischen Literatur hervorging, im Volksmund irreführend „magischer Realismus“ genannt. Das Kind brauchte eben einen Namen. Die Buchhalterin des Unternehmens war die unendlich clevere katalanische Agentin Carmen Balcells.
Leidenschaftlicher Streit über Politik und Ideologie
Seine nächste Häutung bestand darin, den Freundschaftsklub aus politischen Gründen aufzukündigen, und hier zeigte sich schon der wahre Mario. Als jüngstes Mitglied der Bewegung, deren Gravitationszentren Mexiko-Stadt, Paris und Barcelona hießen, zog er als Einziger die Konsequenz aus den Repressionen des Castro-Regimes und sprach nicht mehr von der „Revolution“, als trüge sie einen Heiligenschein, sondern lieber von sowjetischen Panzern und kubanischer Unterdrückung, also dem Umschlag des karibischen Sozialismus in die langlebigste Diktatur der Gegenwart. Der kühlste, analytischste Kopf der vier Literaten wechselte die Seiten, sodass manche ihn heute gedankenlos „rechts“ nennen. Der vor wenigen Monaten unter dem Titel „Las cartas del Boom“ bei Alfaguara erschienene Briefwechsel der vier Freunde – von denen sich Vargas Llosa und García Márquez nach 1971 unwiderruflich verfeindeten – zeigt eindringlich, wie eng die persönlichen Beziehungen waren, aber auch, wie leidenschaftlich über Politik, Ideologie und die lateinamerikanische Identität gestritten wurde. „Legendär“ ist eine zu schwache Bezeichnung für die umwälzende Energie, die von diesen Autoren ausging.
Als Mario Vargas Llosa sich jetzt zum Rückzug von seinem spanischen Hausblatt „El País“ entschloss, erinnerte er sich noch einmal an seine erste Kolumne vor mehr als 33 Jahren. Sie hieß „Lob der eisernen Lady“ und mutete der vornehmlich linken Leserschaft von „El País“ am 2. Dezember 1990 eine tiefe Verbeugung vor Margaret Thatcher zu. An Mut hat es Vargas Llosa nie gefehlt. Thatcher war für den damals in London lebenden Schriftsteller der Inbegriff einer visionären Politikerin, die entschlossen war, eine ganze Gesellschaft umzukrempeln. So freundlich sahen es nicht alle. Und noch weniger dürfte den Lesern, aber auch der Chefredaktion in Madrid gefallen haben, was Vargas Llosa ans Ende seines Artikels setzte. Gleich nach der Nachricht von ihrem Rücktritt habe er Thatcher einen Blumenstrauß geschickt, schrieb er, und die Zeilen dazugelegt: „Meine Dame, das Wörterbuch reicht nicht aus, um Ihnen zu danken für das, was Sie für die Sache der Freiheit getan haben.“
Die ganze Weltlage im Blick
Der Marktwirtschaftler Vargas Llosa – in den Augen seiner Gegner ein Neoliberaler und kalter Kapitalist – hatte seine Stimme gefunden. Demokratie und Freiheitsrechte sind für ihn bis heute mit freien Märkten und ungehindertem Wettbewerb verbunden. Dafür nimmt er auch schon mal Populismus, Autoritarismus, schlechte Manieren und fürchterliche Rhetorik in Kauf, wie seine Unterstützung manches lateinamerikanischen Kandidaten der Rechten bezeugt. Doch Vargas Llosa hat seine Kolumne auch für Betrachtungen über politische Moral genutzt, die Weltlage als solche, über große Filme, den Stierkampf (den er verteidigt) und besonders häufig für das Lob von Schriftstellerkollegen, die ihm, dem unersättlichen Leser, so viele Stunden niveauvoller Unterhaltung geschenkt haben, von Stieg Larsson bis Javier Marías.
Doch der Abschied des Schriftstellers geht noch weiter. Auch dem Romanschreiben hat der Autor nach sechzig Jahren definitiv Adieu gesagt. Im Herbst des vergangenen Jahres erschien sein Roman „Le dedico mi silencio“ (Ich widme ihr mein Schweigen) bei Alfaguara in Madrid, und von nun an soll Schluss sein. Er habe mit diesem Buch seine Schwierigkeiten gehabt, verriet er spanischen Medien, die Gedächtnislücken würden größer, die Erinnerung immer kürzer. Nach einem turbulenten Jahrzehnt samt Trennung von seiner Frau Patricia nach rund fünfzig Jahren, einer öffentlich lebhaft kommentierten Beziehung zu der Madrider Society-Dame Isabel Preysler und einer nicht minder öffentlichen Trennung vor dreizehn Monaten sowie tapfer in Empfang genommenen Preisen, Medaillen und Ehrendoktorhüten scheint der mit immensen Kräften gesegnete Autor allmählich müde zu werden. Eine Covid-Erkrankung hat ihm 2023 zugesetzt; die Bilder des letzten Jahres, auch die der feierlichen Aufnahme in die Académie française, zeigen einen schmaler gewordenen Mann, aus dessen Gesicht die Augen eines Greises hervorschauen. Seinen letzten Roman hat er seiner Frau Patricia gewidmet.
Ästhetisch geht das Buch, mit dem der Siebenundachtzigjährige den Schlusspunkt setzt, kaum über sein braves Spätwerk hinaus. Schwer vorstellbar, für solche Geschichten hätte irgendein Autor die höchste literarische Auszeichnung der Welt erhalten können. Aber der Roman ist auf einer anderen Ebene interessant. Er wendet sich mit einer gewissen Nostalgie, aber auch unverkennbarer Heimatliebe der volkstümlichen peruanischen Musik zu, besonders dem kreolischen Walzer und einem begnadeten, tragisch gestorbenen Gitarristen, dessen schwer recherchierbare Lebensgeschichte der Held des Romans schreiben will.
Eintauchen in die Volkskultur
Toño Azpilcueta, so der Name dieses brotlosen Enthusiasten, reist in die entlegene Provinz, um ein paar Fakten über das Leben des genialen Einzelgängers Lalo Molfino zusammenzusuchen. Durchsetzt wird die Handlung von Reflexionen über das Wesen der Volksmusik, ihre gesellschaftsverbindende Funktion und ihre erotische Kraft. In diesen Kapiteln wechselt der Roman etwas ungelenk von der Er- in die Ich-Perspektive, und man spürt: Hier spricht Vargas Llosa selbst, der in die Kulturgeschichte seines geliebten Peru zurückkehrt, eines Landes, das viele seiner kosmopolitischen Freunde aus London, Paris und Madrid noch nie betreten haben. Ihn jedoch, Vargas Llosa, hat es nachhaltig geprägt und mit den Themen seines literarischen Schaffens versorgt. Auf der Höhe seines Ruhms, nachdem alles erreicht und alles gesagt ist, taucht der Autor noch einmal in die populäre Kultur seiner Heimat ein, besucht Provinzbars und Tanzschuppen und spricht mit einfachen Leuten.
Er hat diese Reise tatsächlich unternommen, und es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass er sie wiederholen wird. Dass es ein erfundener Künstler ist, dem er in seinem neuen Roman ein Denkmal setzt, passt zu ihm. Denn hier, in der Anbetung der Kreativität, fühlt Mario Vargas Llosa sich zu Hause. Kann man wirklich aufhören, wurde er kürzlich gefragt, Schriftsteller zu sein? „Nein“, lautete seine Antwort, „man träumt weiterhin Romane, auch wenn man aufhört, sie zu schreiben.“ Einen wie ihn, der alles aus seinen Möglichkeiten gemacht hat, der nie ängstlich, opportunistisch oder bequem war und immer den besten Anzug trug, wird es schwerlich wieder geben. Ein letztes kleines Buch könnte von ihm noch kommen, wie er in der Nachbemerkung seines Romans sagt. Es soll von Sartre handeln, vielleicht ja vom Sein – und dem Nichts.
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