Abschiebungen nach Ruanda: Doppelter Schaden
Endstation Ruanda? Migranten nehmen an der französischen Kanalküste Kurs auf England. Aufnahme vom 26. April 2024.
Kein ausländisches Gericht wird uns davon abhalten, die Flugzeuge starten zu lassen“, ruft der britische Premierminister Rishi Sunak, der in seiner politischen Rhetorik mittlerweile beinahe die Drastik Winston Churchills erreicht hat, auch wenn es in seinem Fall nicht darum geht, einen Weltkrieg zu überstehen, sondern sein eigenes politisches Überleben und das seiner Partei zu sichern. Den Tories stehen am Donnerstag bei den Kommunalwahlen in Teilen Englands weitere Niederlagen bevor. Und das beherrschende Thema, das Sunak als Wahlkampfmittel einsetzt, ist seine Absicht, irregulär eingereiste Migranten künftig mit Charterflügen nach Ruanda zu deportieren, ohne ihnen auf britischem Boden die Möglichkeit zu geben, um Asyl zu bitten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte diesen Plan – er stammt von Sunaks Vorvorgänger Boris Johnson – schon vor eineinhalb Jahren vereitelt. Deshalb hat die Londoner Regierung jetzt gesetzlich den verantwortlichen Minister sowie die zuständigen Einwanderungsbeamten angewiesen, einschlägige einstweilige Verfügungen von Straßburger Richtern künftig zu missachten.
Die Gesetzgebung, welche die konservative Mehrheit des Unterhauses zu diesem Zweck verabschiedet hat, legt überdies fest, dass es sich bei Ruanda um einen sicheren Drittstaat handelt, ohne dass dieses Faktum jetzt oder in Zukunft überprüft werden könnte. Zu den Belegen, die in der Debatte zugunsten Ruandas angeführt wurden, zählte die Kriminalstatistik, die ausweise, dass die Rate an Kapitalverbrechen in England höher sei als dort.
Vermögende Studenten sind gern gesehen
Nach diesem Kriterium hätte freilich Nordkorea als einer der sichersten Drittstaaten der Welt zu gelten. Und es ist bezeichnend, dass viele britische Konservative offenbar inzwischen mit einem Sicherheitsbegriff zufrieden sind, der nur den Schutz vor Räubern und Messerstechern umfasst, nicht aber die Sicherheit vor staatlicher Willkür und politischer Unberechenbarkeit. Vielmehr verlieren die politischen Akteure im Vereinigten Königreich selbst zunehmend die Bindung an verlässliche konstitutionelle Spielregeln und Grundlagen, zu denen auch die Achtung der Europäischen Menschenrechtskonvention und in der Folge der Respekt vor Urteilen des Menschenrechtsgerichtshofs gehört.
Das Land, das mit dem Austritt aus der Europäischen Union seine politische Souveränität wiedergewinnen wollte, hat seither eine erstaunliche Unsicherheit hinsichtlich der Antwort auf die Frage an den Tag gelegt, wo denn die eigenen Grundwerte dem politischen Handeln Grenzen ziehen. Immer häufiger plakatiert die von der Angst des Machtverlusts getriebene konservative Regierungspartei Pläne und Ideen, die konstitutionellen und moralischen Ansprüchen nicht genügen.
Das Migrationsbeispiel illustriert diese Entwicklung am krassesten. Die Regierung in Westminster will einerseits unliebsame Flüchtlinge (unter ihnen viele Afghanen und Syrer mit großenteils berechtigten Ansprüchen auf Schutz) nach Ruanda abschieben mit dem Argument, nur so sei zu verhindern, dass kriminelle Menschenhändler mit deren Elend viel Geld verdienten. Die Regierung zahlt dem ruandischen Staat stattdessen selbst dreistellige Millionenbeträge, damit er die Abgeschobenen aufnimmt. Auf einem anderen moralischen Kontoblatt lädt sie mehr als hunderttausend Studenten im Jahr ein, viele davon aus Asien und Afrika, nach Großbritannien zu kommen. Dort sollen sie mit kräftigen Studiengebühren (die das Mehrfache der Gebühren für britische Studenten betragen können) den finanziell klammen Universitäten aufhelfen.
Eine Schwächung der Autorität droht
Solche disruptiven, populistischen Aktionen sind kein Markenzeichen der konservativen politischen Führungsriege (Boris Johnson, Liz Truss und Nigel Farage machen übrigens kein Hehl daraus, dass sie die Rückkehr des amerikanischen Populisten Donald Trump in das Präsidentenamt befürworten würden). Sie fanden in kleinerem Maßstab auch in der New-Labour-Ära statt. Tony Blair erregte schon dadurch Aufsehen, dass er anlässlich der zeremoniellen Parlamentseröffnung zu Fuß ging und dadurch die Königin in ihrer goldenen Kutsche altmodisch und unzeitgemäß aussehen ließ.
Zu den gravierenden Konsequenzen der aktuellen politischen Rücksichtslosigkeiten zählt unterdessen nicht nur der Effekt, den ihre Grobheit im Verfassungs- und Wertegefüge anrichtet. Auch die politische Autorität wäre geschwächt, sollten die Hauruck-Maßnahmen nicht funktionieren. Wenn die Regierungspolitik neues Recht setzt, wie im Falle der Ruanda-Abschiebung oder im Falle des von Sunak erstrebten jahrgangsgebundenen Rauchverbots, sie dieses Recht aber anschließend nicht wirksam anwenden oder durchsetzen kann, dann hat sie alle Seiten enttäuscht und einen doppelten Schaden gestiftet.