Andreas Wagners „Sleeping Beauties“

andreas wagners „sleeping beauties“

Beginnen wir mit Gräsern und Ameisen. Gräser wurden vor 25 Millionen Jahren zu dominanten Arten in vielen Ökosystemen der Erde. Aber der Ursprung dieser Artengruppe – die heute ungefähr zehntausend Arten umfasst – liegt 65 Millionen Jahre zurück. Vierzig Millionen Jahre lang fristeten Gräser eine prekäre Existenz, bevor ihre Erfolgsgeschichte begann. Ähnlich ist es bei den Ameisen. Diese Insektenfamilie tauchte erstmals vor 140 Millionen Jahren auf, doch sie erlebte ihre erstaunliche Diversifizierung erst vierzig Millionen Jahre später. In manchen Fällen geschieht die Artbildung sehr schnell: Lupinen in den Anden oder Buntbarsche in den ostafri-kanischen Seen sind klassische Beispiele für rasante evolutionäre Diversifizierung.

In seinem Buch bringt Andreas Wagner, Evolutionsbiologe an der Universität Zürich, zwei Erklärungen für solche Entwicklungsgeschichten ins Spiel. Entweder ist die Evolution ein agiler Innovator, der Möglichkeiten schnell ausnutzt, sobald sie auftauchen, oder aber die Diversifizierung kann sich auf Innovationen stützen, die auftauchten, bevor sie ihre Nützlichkeit zu beweisen vermochten. Wagners Buch ist ein Versuch zu zeigen, dass die zweite Alternative – die Rolle von „schlafenden Schönheiten“ – ein wesentlicher Grund für explosive Ausbreitung mancher Artengruppen ist und dass ähnliche Mechanismen auch das Schicksal von kulturellen und technischen Innovationen mitbestimmen.

Wagner stellt seine Ideen am Beispiel der Gräser dar. Eine Reihe von Schlüsselinnovationen kann den evolutionären Erfolg dieser Lebensformen erklären – dazu gehören ein vor Fressfeinden geschütztes Wachstumsgewebe, chemische Abwehrstoffe wie Lignin und Siliziumdioxid und letztendlich die sogenannte C4-Photosynthese, ein Stoffwechselweg zur Fixierung atmosphärischen Kohlendioxids, der Gräsern in heißen und trockenen Lebensräumen einen Vorteil bringt.

Ursprung evolutionärer Innovationen

Doch die evolutionäre Geschichte dieser Innovationen hält eine Überraschung bereit: Sie entstanden schon früh, viele Millionen Jahre bevor Gräser neue Lebensräume eroberten und sich eine Vielzahl neue Arten bildete. Zum Zeitpunkt der enormen Diversifizierung vor 25 Millionen Jahren kam keine wesentliche neue Innovation hinzu. Was damals im mittleren Miozän geschah, war ein Übergang zu einem trockenen Klima: Hochgebirge und trockene Hochebenen bildeten sich, Wälder verschwanden großflächig, und die Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre ging zurück.

Nicht neue innovative Merkmale, sondern die neuen Umweltbedingungen lösten demnach die rasante Diversifizierung und Ausbreitung der Gräser aus – Bedingungen, von denen auch andere Artengruppen, wie beispielsweise die Kakteen, profitierten. Auch bei einzelligen Organismen gibt es Merkmale, die entstehen, bevor sie ihre Nützlichkeit beweisen können. Manche Bakterien sind resistent gegen Antibiotika, denen weder sie noch ihre Vorfahren je begegnet sind. Fast neunzig Prozent der Bakterien, die in 170 Meter tief liegenden Sedimentgesteinen leben, waren resistent gegen mindestens eines von dreizehn getesteten Antibiotika. Dies hat nichts mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit evolutionärer Prozesse zu tun, die Zukunft vorwegzunehmen, sondern ist die Folge imperfekter molekularer Wechselwirkungen zwischen Enzymen und ihren Substraten. Wagner bietet in seinem Buch einen faszinierenden und gut verständlichen Überblick über zahlreiche weitere Beispiele für solche Erscheinungen in der Evolutionsgeschichte.

Der Ursprung evolutionärer Innovationen beschäftigt Biologen schon seit Langem. 1982 prägten Steven Jay Gould und die Paläontologin Elisabeth Vrba den Begriff „exaption“ für Merkmale, die nicht nur in ihren Ursprungsformen nützlich waren, sondern sich überdies als geeignet erwiesen für die Erfüllung von Aufgaben, die erst die Zukunft brachte. Die Schwimmblase von Fischen dient als Vorlage für die Lunge landlebender Tiere, Knochen des Kiefergelenks werden im Säugetierschädel für die Gehörknöchelchen weiterverwendet, und Federn, ursprünglich wohl Strukturen für die Thermoregulation wechselwarmer Reptilien, erlaubten die Evolution des Vogelfluges. Wagners „schlafende Schönheiten“ sind aber nicht mit solchen Exaptionen gleichzusetzen, denn sie sind völlig nutzlos, solange nicht veränderte Umweltbedingungen sie zu Lösungen für neue Probleme machen. Wagner postuliert, dass biologische Innovationen häufig auftreten und nicht mit hohen Kosten verbunden sind. Sie würden unablässig produziert, aber ihr Erfolg beruht darauf, dass sie auf die richtigen Bedingungen treffen, dann können sie transformierende Kraft entfalten.

Das Buch gibt eine umfassende, fundierte und verständliche Einführung in die Biologie evolutionärer Innovationen, von der molekularen Ebene bis zum sozialen Lernen von Tieren. Weniger überzeugend ist Wagners Ausflug in die Welt technischer und kultureller Innovationen. Da er den Erfolg von Innovationen als Ergebnis einer Lotterie betrachtet, ist seine einzige Empfehlung an Wissenschaftler, Erfinder und Künstler, so viel wie möglich zu produzieren, sodass wenigstens einige Kreationen Chancen auf Durchsetzung haben. Erfolgreiche technische und kulturelle Innovationen sind aber in den seltensten Fällen das Ergebnis individueller Anstrengungen und einer nur zufällig rezeptiven Umwelt. Der Erfolg beruht oft auf koordinierten Anstrengungen machtvoller Akteure, die aktiv und gezielt Bedingungen für Erfolg schaffen. Wie so häufig ist auch hier die Parallelisierung biologischer und technologischer oder kultureller Phänomene kein einfaches Unterfangen.

Andreas Wagner: „Sleeping Beauties“. The Mystery of Dormant Innovations in Nature and Culture. Oneworld Publications, New York 2023. 352 S., Abb., geb., 25,50 €.

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