97-jähriger Ukrainerin gelingt die Flucht vor Russlands Armee: »Ein Soldat lag da, schon tot«
Lange harrte Lydia Lominowska in ihrem Dorf in der Ostukraine aus. Erst als russische Angreifer nahten, wagte sie die Flucht: mit fast 100 Jahren, zu Fuß, ein altes Brett als Stock.
97-jähriger Ukrainerin gelingt die Flucht vor Russlands Armee: »Ein Soldat lag da, schon tot«
»Ich bin gelaufen und gelaufen. Gelaufen, immer weiter gelaufen.« Lydia Lominowska, 97, sitzt auf ihrem Bett in einer Notunterkunft und erzählt von der Flucht aus ihrem Dorf Otscheretyne in der Ostukraine. Zu Fuß entkam sie Ende vergangener Woche den russischen Angreifern.
Seit Tagen schon hatte die russische Armee den kleinen Ort bombardiert, in dem vor dem Krieg einmal 3000 Menschen wohnten. Lominowska hatte als eine von wenigen dort ausgeharrt, aber am Freitag entschloss auch sie sich zum Gehen – offenbar in letzter Minute. »Fast das ganze Dorf stand in Flammen«, sagt die alte Frau. Später habe sie gehört, die Russen hätten es bereits zur Hälfte eingenommen. »Ich weiß nicht, was dort los ist.«
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Die Front bei Otscheretyne ist seit Langem nah, bis zur einstigen Industriestadt Awdijiwka, die die Russen im Februar einnahmen, sind es knapp 20 Kilometer Richtung Süden. Als Lominowska ihr Haus im Ortskern verließ, ließ sie alles zurück und marschierte los. »Ich habe so gelitten, Gott, ich war so müde!« Langsam und ruhig erzählt die Frau mit der rosafarbenen Strickjacke über dem geblümten Kleid. Fragen kann sie nur verstehen, wenn sie laut gestellt werden, Lominowska ist schwerhörig.
»Ich habe nur die Schüsse gehört«
Mit einem alten Brett als Stock sei sie immer weiter die Straße nach Pokrowsk entlanggelaufen, eine mehr als 30 Kilometer entfernte Stadt, so berichtet es die alte Frau mit den kleinen blauen Augen. »Ich habe keine Uhr, ich habe nichts. Ich bin lange gelaufen. Ich ging und ging, ohne mich umzudrehen«, erzählt sie. »Ich habe nur die Schüsse gehört. Ich dachte, sie würden auf mich schießen, aber da war niemand.«
Sie sei durch Ruinen gelaufen, vorbei an Leichen. »Ein Soldat lag da, schon tot, zumindest war er zugedeckt. Und der andere lag einfach so da.«
Nach mehreren Stunden auf der verlassenen Straße, habe sich schließlich ein Auto genähert, mit zwei ukrainischen Soldaten. »Großmütterchen, wo läufst du hin?«, hätten sie gefragt. Sie habe entgegnet: »Ich laufe, solange ich kann, und dann falle ich in die Wiese und schlafe.« Die Militärs riefen die Polizei und die Beamten brachten Lominowska schließlich nach Pokrowsk. Etwa zehn Kilometer habe die alte Frau zurückgelegt auf ihrem Weg.
Das Dorf Otscheretyne sei inzwischen zerstört, sagt Pawlo Diatschenko, der Sprecher der Regionalpolizei. In den umliegenden Dörfern sehe es nicht besser aus. »Das feindliche Bombardement hört einfach nicht auf«, sagt der Polizist. »Ein paar Menschen sind immer noch in Otscheretyne. Wie viele, wissen wir nicht, und auch nicht, ob sie tot oder noch am Leben sind.«