Ian Penmans Buch „Fassbinder“

ian penmans buch „fassbinder“

Wollte Filme für das große Publikum drehen: Das Verausgabungsgenie Rainer Werner Fassbinder, hier mit Hanna Schygulla im Jahr 1970

Die Geschichte der populären Kultur vollzieht sich in wilden Sprüngen, die bei näherem Hinsehen in unerwarteten Choreographien aufgehen. Nehmen wir das Beispiel Punk. Ein junger Mann mit Stachelhaaren drischt auf ein Instrument ein, das er nicht wirklich spielen kann. Im Publikum tanzt man Pogo. Trotzdem lassen sich Text, Song, Frontmännerei, das ganze alte Zeug, nicht vollständig vermeiden. In irgendeinem Keller in London gab es vielleicht in den Siebzigerjahren einen Moment, der tatsächlich Punk war – es gehört zu seinem Wesenskern, dass er nicht überliefert wurde. Und die Sex Pistols? Sind die schon Post-Punk? Und nun eine Königsfrage: Kann „Die Ehe der Maria Braun“ von Rainer Werner Fassbinder, ein Kostümfilm aus der mittleren Bundesrepublik, auch Punk sein?

Fragen über Fragen, wobei die Idee, auf Antworten zu verzichten und lieber Fragen anzuhäufen, auch tendenziell Punk ist. Der britische Musikjournalist Ian Penman hat aus diesem Geist ein Buch über den deutschen Filmemacher geschrieben, der seine größte Phase just in der Zeit hatte, in der Punk ausbrach, und der die nächsten großen Dinger (Postmoderne, Hip-Hop, Digitalisierung) schon nicht mehr erlebte. Denn Rainer Werner Fassbinder starb 1982 im Alter von 37 Jahren nach einer Karriere mit einem explosionsartigen Ausstoß von Filmkunst in einem Tempo, für das es heute ein gutes Dutzend Filmbranchen bräuchte, und die kämen mit ihren Sitzungen nie nach.

Penman zog seine eigenen Schlüsse aus den Aporien von Punk (man kann einfach nicht endlos oft mit dem Kopf durch die Wand wollen): Er verlegte sich, wie er schreibt, auf „Disco, Dance, Cocktails“. Aber Fassbinder blieb bei ihm. Und nun hat er sein Nachdenken über den Regisseur auf eine Weise zusammengefasst, die ausdrücklich nicht auf das Standardwerk zielt, nach dem der Buchmarkt ohnehin nicht gefragt hat. Mit der Fassbinder-Exegese und auch mit der Fassbinder-Indus­trie will Penman nichts zu tun haben. „Fassbinder. Tausende von Spiegeln“ umkreist den Künstler in 450 Notaten und kümmert sich dabei nicht um so altmodische Dinge wie zum Beispiel eine Einordnung von Haupt- und Nebenwerken. Denn es geht immer schon um etwas Größeres, um die Konturen unserer Zeit insgesamt.

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Ian Penman: „Fassbinder“. Tausende von Spiegeln.

Bis die Transistoren im Körper aufgaben

Penman trifft vielleicht den Grundmodus seiner eigenen Zunft, des Popkritikers, perfekt, wenn er ihn als „worrying away at the idea of epochs and eras“ definiert – „den Epochenbegriff zergrübeln“, schreibt der gewohnt exzellente Übersetzer Robin Detje an dieser Stelle. Fassbinder ist für Penman ein „missing link“ zwischen Epochen, die ihm unter der schreibenden Hand zerfallen, in denen er aber ausreichend unerwartete Choreographien entdeckt, dass nicht alles ins Zusammenhanglose zerfällt.

In der geläufigsten Rezeptionslinie war Fassbinder ein queeres Verausgabungs- und Ausbeutungsgenie, das den Neuen Deutschen Film aus seiner romantischen Subjektivität (Herzog, Wenders) zu erlösen versuchte, in ein aus Hollywood abgeschautes privates Studiokino, in das die Massen so strömen sollten, wie einst in die Unterhaltungsfilme der Nationalsozialisten – nun aber mit kritischem Bewusstsein. Penman interessiert dieser große Bogen nicht, Nationalkino ist für ihn keine Architektur, sondern ein Gestrüpp, in dem Fassbinder am ehesten noch neben dem Postpunk Syberberg zu stehen kommt.

Der Autor nistet sich in den Faltungen eines Werks ein, in dem die Genet-Adaption „Querelle“ an die letzte Stelle zu stehen kam, nicht als Summe, sondern halt als das, was übrig bleibt bei einem, der immer fünf Filme gleichzeitig in der Mache hat und darüber irgendwann stirbt – das Lebensradio so lange immer lauter aufgedreht, bis die Transistoren im Körper aufgaben. An „Querelle“ entdeckt Penman dann allerdings doch eine Menge, und Jean Genet wird eine der Spiegel-Figuren, die den Text durchgeistern, wie auch Walter Benjamin oder der nur einmal erwähnte, aber bedeutsame Orson Welles.

Das Kino war für ihn kein Mittel in einem bewaffneten Kampf

Während Legionen von akademischen Tagungen die Ästhetik von Fassbinder auseinandernehmen, fragt Penman (auch sich selbst): „Wissen wir auch ganz bestimmt, was Kitsch ist?“ Gut hundert Seiten später taucht auf diese Passage ein Echo auf, das ans Eingemachte geht: „Hat es ihm im Grunde an Phantasie gemangelt? Ich will hier kein Gift verspritzen und ihn vom Sockel stoßen. Ich vermute dasselbe bei mir selbst und vielen Autoren oder monomanen Künstlern, die ich verehre. Vorstellungskraft ist eine lobenswerte, aber nicht die einzige oder wichtigste Eigenschaft. Seine Unfähigkeit, sich eine andere Welt vorzustellen, mag der Kern von allem gewesen sein, was er getan und erreicht hat.“

Die Achtundsechziger wollten die Phantasie an die Macht bringen. Die Revolution aber, das heimliche Leitmotiv von Penmans Buch, weiß nicht, was sie an die Macht bringen will. Denn sie will ja alles grundstürzend verändern. Da kann man nicht alles vorher planen. Das Jahr des Punk 1977 war auch das Jahr des Deutschen Herbsts, und damit das Jahr, in dem die Hoffnung auf eine gewaltsam beförderte bessere Welt abgewickelt wurde. „Terrorismus“ ist einer der Leitbegriffe für Penman, genauer: die Reaktion von Fassbinder auf ihn, die Distanznahme in dem Gruppenfilm „Deutschland im Herbst“.

Für Fassbinder war das Kino kein Mittel in einem bewaffneten Kampf, wie für Godard. Er wollte etwas vielleicht Unmögliches, nämlich mit dem ganzen Apparat etwas Populäres erschaffen, in dem sich ein großes Publikum in seinen Kompliziertheiten erkennen konnte. Keine andere Welt, sondern die eigene, in künstlerischer Überzeichnung. Hollywood gelang diese Utopie für ein, zwei Jahrzehnte, und zwar just, als Goebbels ihr ein Unterhaltungskino gegenüberstellen wollte, in dem keine Obsessionen mehr Platz hatten außer einige irrsinnige, welthistorische, die ihm und dem Führer vorbehalten waren.

Am zwanzigsten Jahrhundert haben sich schon viele Autoren zergrübelt. Penman bietet mit dem Epochenschema Punk/Post-Punk eine Figur an, die nicht nur für den Blick auf Fassbinder, sondern auch darüber hinaus eine Menge hergibt. Kein Buch für die Hauptvorlesung, eher eines für die Hosentasche, zum Blättern beim Anstehen in Kinos oder bei Festivals, in denen vielleicht irgendjemand den Geist von Rainer Werner Fassbinder in immer neuen Post-Punk überführt.

Ian Penman: „Fassbinder“. Tausende von Spiegeln. Aus dem Englischen von Robin Detje. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 243 S., br., 20,– €.

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