9. Mai in Berlin: Ukrainer protestieren gegen prorussische Versammlungen
Stiller Protest: Drei Unterstützer der Ukraine strecken eine Flagge in die Höhe. Die russische Rocker-Gruppe Mayhem posiert demonstrativ mit einem russischen Pedant.
Langsam steigt der Mann mit der verbotenen Flagge die Stufen hinauf. Ganz oben angekommen, betritt er das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park. Auf seinen Schultern die blau-weiß-rote Russlandfahne. Es ist der 9. Mai, der Tag des Sieges über Nazideutschland. Der Mann ist früh unterwegs an diesem Gedenktag. Es ist zwanzig vor acht am Morgen und die offiziellen Feierlichkeiten haben noch nicht begonnen.
Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland und der Zweite Weltkrieg endete in Europa. In Russland wird der Gedenktag am 9. Mai gefeiert – und auch in Berlin finden Veranstaltungen statt. Üblicherweise legen Vertreter der russischen Botschaft, Privatpersonen, Gruppen und Verbände der Soldaten der Roten Armee in der Hauptstadt Kränze an Gedenkorten nieder. So auch an diesem Donnerstag im Treptower Park.
Der Mann läuft die Stufen wieder hinunter, spaziert über das Gelände, den Rücken immer noch von der Russland-Flagge bedeckt. Erst kurz bevor er den Haupteingang erreicht, wo Polizisten stehen, rollt er die Flagge zusammen und steckt sie in die rechte Tasche seiner Jeans.
Bereits vor dem eigentlichen Gedenktag hat die Berliner Polizei mehrere Verbote erlassen, darunter ein Verbot von Flaggen mit den russischen Nationalfarben. Sowjetische Ehrenmale und Kriegsgräber sollen durch die Beamten nicht nur geschützt, auch ein reibungsloser Ablauf sollte sichergestellt werden. Mehrere Symboliken, „die geeignet sind, den Russland-Ukraine-Krieg zu verherrlichen“, sind untersagt worden. 600 Polizisten begleiteten die Veranstaltungen.
Auch Marschmusik ist am 9. Mai verboten. Dennoch spielt im Treptower Park ein Mann, der sich als Vitali vorstellt, über einen Lautsprecher das russische Lied „Abschied der Slawin“ ab. Die Polizei ermahnt ihn. „Ich spiele das Lied, weil es gute Laune macht“, erwidert Vitali.
Gegen 9.30 Uhr trifft der russische Botschafter in Berlin, Sergei Jurjewitsch Netschajew, vor dem Ehrenmal ein. Er schüttelt die Hände von Uniformierten und Zivilisten. Vier orthodoxe Priester singen im Chor. Kränze werden aufgebaut, unter dem Protest von prorussischen Besuchern auch einer in ukrainischen Landesfarben.
„Das ist eine Provokation! Das ist geschichtsvergessen!“, sagt eine Frau verärgert über den ukrainischen Beitrag zum Gedenken. Doch der Kranz ist erlaubt, muss nur ein wenig beiseitegestellt werden, sodass er nicht die Gestecke aus Tadschikistan, Belarus, Vietnam oder Aserbaidschan verdeckt. Gegen 13.30 Uhr versammeln sich laut Polizei rund 700 Teilnehmer vor dem Ehrenmal.
Die Verbote der Polizei sind lediglich eine Allgemeinverfügung in Form von Appellen oder Verweisen. Vitali hat also nicht mehr zu befürchten, als dass er seine Marschmusik nicht mehr vor dem Ehrenmal spielen darf, sondern nur noch in der U-Bahn oder auf der Puschkinallee.
Ortswechsel. Vor dem Sowjetischen Denkmal im Tiergarten bleibt es still, auch als mehrere Offiziere die Treppen emporsteigen und Kränze ablegen. Anders als im Treptower Park sind hier keine russischen Flaggen zu sehen. Die Anwesenden halten sich an die Regeln. Zumindest vorerst. Ab 10.30 Uhr wird die Lage für die Polizei langsam unübersichtlich. Kleinere und größere Gruppen strömen Richtung Denkmal.
Die Beamten bekommen erste lautstarke Beschwerden zu hören. „Die machen das doch alles extra“, ruft ein Mann. Er trägt eine Camouflage-Jacke und läuft schnellen Schrittes die Treppen nach oben. Zwei Passanten bleiben stehen, drehen sich um und entgegnen: „Lächerlich, dass die Polizei die Flaggen verboten hat.“
Das stimmt so nicht. Als drei Personen eine ukrainische Flagge in die Höhe halten, wird das toleriert. Ebenfalls zugelassen sind rote Flaggen mit kyrillischen Schriftzügen. Als die Umstehenden die ukrainische Flagge zur Kenntnis nehmen, wird es laut. „Das ist doch verboten“, ruft eine Frau mit russischem Akzent und läuft zu einer Gruppe von Polizeibeamten.
„Wieso machen sie nichts?“, fügt sie hinzu. Die Beamten bleiben ruhig, versuchen, die Protestierenden abzuschirmen. Ein Mann kommt hinzu, hält eine rote Nelke in den Händen. „Die sowjetische Flagge gehört hierher und nicht das da“, ruft er wütend und zeigt mit dem Finger auf die drei mit der Flagge. Doch das Geschrei hilft nicht.
Nicht alle kommen glimpflich davon. Wie eine Sprecherin der Berliner Polizei gegen Mittag mitteilt, ergriffen die Beamten an beiden Orten gegen zehn Personen insgesamt freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Zur Begründung nannte die Sprecherin Beleidigungen, volksverhetzende Symbolik und Verstöße gegen die Allgemeinverfügungen.
„Wir wurden heute schon mehrfach beleidigt“, erzählt eine Frau aus der Dreiergruppe, die weiterhin ihre gelb-blaue Flagge der Sonne entgegenstreckt. Sie hätten einen weiteren Kranz mitgebracht, der jedoch sei von der Polizei für die Dauer der Veranstaltung konfisziert worden. Die „Kranzproblematik“ sei im Logbuch der Beamten notiert worden. „Wir bleiben auf jeden Fall so lange hier, bis unser Kranz wieder vor dem Denkmal liegt“, sagt ein anderer aus der Dreiergruppe.
Während die einen warten, legen die anderen Blumen ab. Nachdem Diplomaten und Vertreter anderer Länder Kränze abgelegt haben, verlassen die Anwesenden den kleinen Vorplatz. Sie versammeln sich auf der Straße des 17. Juni, halten Fotos von Soldaten in die Höhe und singen russische Volkslieder.
Sie formieren sich für das „Unsterbliche Regiment“, den Marsch, der in vielen russischen Städten am 9. Mai stattfindet und zu den wichtigsten Ritualen am Tag des Sieges gehört. Die Stimmung ist gut, es wird getanzt und gefeiert. Zwei Frauen fallen sich in die Arme.
Dann wird es kurz still. Direkt neben dem Tross, bestehend aus etwa 150 Personen, befindet sich die Absperrung zum Tiergarten. Hinter dem Zaun stehen einige Menschen. Sie halten ein Schild in den Händen, auf dem die ukrainische Flagge zu sehen ist. Beide Gruppen rufen sich auf Ukrainisch und Russisch etwas zu. Die Polizei zögert nicht, greift sofort ein und verhindert somit potenzielle Auseinandersetzungen.