8,5 Millionen Menschen sind im Sudan auf der Flucht – was das für die Kinder bedeutet
Mariam Djimé Adam, 33, auf dem Hof der Sekundarschule der tschadischen Grenzstadt Adre. Mariam musste mit ihren acht Kindern aus dem Sudan flüchten, ihr Mann wurde getötet.
Bereits seit einem Jahr erleben die Kinder im Sudan Unsicherheit, Trauma und Gewalt. Schon vor dem Ausbruch des Krieges war die Lage für sie düster: Der Sudan hat weltweit eine der höchsten Raten von Mangelernährung unter Kindern.
Mit dem Krieg rutschte das Leben der Kinder noch tiefer in die Krise. Wie sie Familien unter anderem mit dem Handy unterstützen können, erklärt Martin Kraft von UNICEF Schweiz und Lichtenstein.
8,5 Millionen Menschen auf der Flucht
Die Probleme im Sudan sind vielseitig: Die Kinder leiden Hunger, sind aber ebenso durch Krankheiten bedroht. Seit dem Ausbruch des Krieges sei die Immunisierungsrate rapide gefallen, schreibt UNICEF auf seiner Website. Eines von sechs Kindern sei komplett ungeschützt. Insgesamt 14 Millionen Menschen – fast die Hälfte der Population – brauchten dringend Zugang zu Wasser, Lebensmittel, medizinischer Hilfe und sanitären Einrichtungen.
8,5 Millionen Menschen sind vor dem Konflikt zwischen der sudanesischen Armee und der Milizen der «Rapid Support Forces» auf der Flucht. Zum Vergleich: Die Schweiz zählt aktuell etwas mehr als 8,7 Millionen Einwohner.
Die humanitäre Situation ist eine Katastrophe, wie Hilfsorganisationen schon seit Monaten warnen. Viele Gebiete unter Kontrolle der RSF sind von jeglicher Hilfe komplett abgeschottet.
Wo sich die Flüchtlinge innerhalb des Sudans und in den Nachbarstaaten aufhalten
Die blauen Punkte zeigen, wo sich die Binnenflüchtlinge aufhalten. Je grösser der Punkt, desto grösser die Anzahl an Vertriebenen. Die roten Gebiete zeigen, von wo die Menschen geflüchtet sind. Je dunkler die Farbe, desto grösser die Anzahl.
Die meisten sudanesischen Flüchtlinge in der tschadischen Grenzstadt Adré stammen aus der Stadt El Genenina, im Bundesstaat West Darfur.
Das schränkt auch die Einsatzgebiete von UNICEF ein, wie Martin Kraft erklärt. Das Kinderhilfswerk sei hauptsächlich im Norden des Landes sowie in angrenzenden Staatsgebieten wie dem Tschad, dem Südsudan oder Ägypten tätig. Grund dafür sind die vielen Blockaden, welche die RSF in den von ihnen kontrollierten Gebieten errichtet hat. So ist etwa die Hauptstadt des Landes, Khartum, schon seit Längerem von grösseren Hilfslieferungen abgeschnitten. Wie Kraft ausführt, hätte auch schon UNICEF Mitarbeitende aus der Hauptstadt abziehen müssen. Dennoch sei erst kürzlich wieder ein Team vor Ort gewesen.
Über UNICEF
Das UNICEF ist das Kinder-Hilfswerk der UNO, welches weltweit in über 190 Ländern tätig ist. Die Einsatzbereiche umfassen Bildung, Überleben, Kinderschutz und Gesundheitsprogramme von Impfen bis hin zur Bekämpfung von Mangelernährung. Auch in der Nothilfe ist das Hilfswerk tätig, wobei es bei Katastrophen Unterstützung anbietet. Seit 1952 ist UNICEF im Sudan aktiv, seit 1974 mit einem permanenten Sitz in der Hauptstadt Khartum. |
Martin Kraft arbeitet bei UNICEF als Leiter für Internationale Programme und verfügt über zehn Jahre Erfahrung in Afrika, unter anderem als Länderdirektor der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ ) für Burundi und Ruanda.
Er verweist dabei auf die Tatsache, dass UNICEF nicht nur mit internationalen Teams, sondern auch sehr eng mit nationalen Partnern und nicht-staatlichen Organisationen zusammenarbeite. Dass UNICEF im Sudan schon seit Langem eine Präsenz habe, komme ihnen jetzt zugute, erklärt Kraft. Indem sie bereits vor dem Konflikt gut aufgestellt gewesen seien, hätten sie mit grösserer Flexibilität auf die Kampfhandlungen reagieren können.
Die bereits etablierte Zusammenarbeit mit Provinzspitälern und Gemeinden könne auch jetzt noch fortgesetzt werden – etwa mittels Beratung oder finanzieller Unterstützung. Das ist nicht zuletzt neueren Technologien zu verdanken:
«Wenn man lokale Organisationen unterstützt, geht das auch übers Handy.»
Wie Geld der Bevölkerung helfen kann
UNICEF arbeite zunehmend mit sogenanntem «cash transfer», also mit dem Überweisen von Geld. Ein relativ neuer Ansatz, der zunächst problematisch klingen mag, aber viele Vorteile beinhaltet, wie Kraft ausführt:
«Nahrungsmittel selbst einzukaufen und zu verteilen, ist logistisch gesehen viel aufwendiger und kann in den lokalen Markt eingreifen und zu Preisverzerrungen führen.»
So könnte es beispielsweise vorkommen, dass Bauern ihre Nahrungsmittel zurückhielten, weil sie darauf hofften, dass das World Food Program (WFP, eine Partnerorganisation von UNICEF) es ihnen abkaufe. Das Senden von Geld greife weniger in die lokalen Märkte ein und sei für die Bevölkerung unter Umständen nützlicher:
«Geld kann von der Bevölkerung viel zielgerichteter eingesetzt werden. So weiss eine Mutter zum Beispiel am besten, welche Nahrung ihr Baby gerade benötigt.»
Voraussetzung für das Senden von Geld sei natürlich die Anwesenheit von Lebensmitteln, räumt Kraft ein. Aus diesem Grund müsse immer situativ zwischen den beiden Ansätzen ausgewählt werden. Ein Entscheid, der jeweils auch von der Lage und vom Klima abhänge. Was für beide Ansätze im selben Masse gelte, sei eine genaue Überwachung, um Korruption zu verhindern.
Wo möglich, werden Hunger und Mangelernährung auch medizinisch betreut. So sind Teams von UNICEF auch in Flüchtlingslagern vor Ort, wo sie Kinder regelmässig untersuchen und sie auf dem Weg zur Besserung begleiten.
Vertriebene Kinder werden im Rahmen der integrierten Gesundheits-, Ernährungs- und WASH-Kampagne von UNICEF am Sammelpunkt Alnahda im Bundesstaat Nil auf Mangelernährung untersucht.
Mittels sogenannter MUAC-Bändern («Mid-Upper Arm Circumference», zu Deutsch: «Mittlerer Oberarmumfang») kann ermittelt werden, ob und wie schwer die untersuchten Kinder unterernährt sind.
Die Kinder benötigen die Hilfe dringender denn je, wie eine Prognose von UNICEF zeigt:
«In diesem Jahr werden voraussichtlich fast 4 Millionen Kinder an akuter Unterernährung leiden, davon 730’000 an schwerer Auszehrung – der tödlichsten Form.»
Der dreijährige Simba leidet an schwerer akuter Unterernährung und wird im Kinderkrankenhaus von Port Sudan, welches von UNICEF unterstützt wird, behandelt.
Vertriebene helfen Vertriebenen
Ein weiterer Schwerpunkt liege in der Bekämpfung von Krankheiten, erklärt Kraft. Das sei insbesondere für Menschen auf der Flucht von zentraler Bedeutung, da die Hygiene dort viel schlechter sei. Kinder werden krank von schmutzigem Wasser, die Durchfallerkrankungen schiessen in die Höhe. Kraft betont:
«Erwachsene können besser damit umgehen, Kinder schwächen diese Erkrankungen viel schneller.»
Zudem begünstigt schlechte Hygiene die Verbreitung von hochansteckenden Krankheiten wie Cholera, Masern und Polio. Eine Aufrechterhaltung von staatlichen Impfkampagnen ist deshalb besonders wichtig. Gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Gavi (Globale Allianz für Impfstoffe) unterstützt UNICEF eine vom sudanesischen Gesundheitsministerium lancierte Impfkampagne.
Auch viele Freiwillige schliessen sich der Impfkampagne an. So etwa Wijdan Mahmoud:
Wijdan Mahmoud (zweite von links), eine aus dem Bundesstaat Gezira vertriebene Impfärztin und Freiwillige, und andere Mitglieder des mobilen Teams mit dem Namen «Al-Nazheen for the Displaced» – übersetzt «Vertriebene für Vertriebene» – impfen Kinder in der Sammelunterkunft Al adad für vertriebene Familien im Bundesstaat Kassala.
Die Mitglieder des mobilen Teams «Al-Nazheen for the Displaced» durchqueren Gemeinden im ländlichen Kassala und impfen Kinder während der Impfkampagne gegen Masern und Röteln.
Die Impfkampagnen würden sehr weit gestreut, führt Kraft weiter aus. Dazu müssten Freiwillige auch mal mit einer Kühlbox in den öffentlichen Bus sitzen, um Impfstoff zu einer Station zu bringen, wo dieser verimpft wird. Auch hier erfolge die Bezahlung oftmals direkt am Abend per «cash transfer» übers Handy.
Trotz des noch wütenden Krieges konnten dieses Jahr 5,7 Millionen Kinder gegen Masern und Röteln geimpft werden.
Zentral für das Eindämmen von Krankheiten ist auch der Zugang zu sanitären Einrichtungen. Dazu ist UNICEF auch im Sudan und angrenzenden Staaten mit der WASH-Kampagne vor Ort (Water, Sanitation and Hygiene). Damit sorgen sie unter anderem dafür, dass die Menschen sauberes Trinkwasser haben.
Am 16. Juni 2023 holen Frauen und Mädchen im Dorf Koufroun im Osten des Tschad, an der Grenze zum Sudan, Wasser aus einem von UNICEF installierten Brunnen. In Koufroun leben Tausende sudanesische Flüchtlinge. Schon vor ihrer Ankunft hatte das Dorf kaum Zugang zu sauberem Wasser. Das Bohrloch hilft sowohl den Flüchtlingen als auch den Aufnahmegemeinschaften.
«Kindheit kann nicht warten»
Im Sudan leistet UNICEF derzeit hauptsächlich Notfallhilfe. Es geht also in erster Linie darum, das Überleben der besonders gefährdeten Kinder zu sichern. Doch auf das Überleben folgt das Leben und dieses birgt für Kinder aus Kriegsgebieten eine Reihe weiterer Herausforderungen.
Frauen, aber auch Kinder, seien in Kriegsgebieten weltweit sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Dies hinterlässt auch seelische Spuren, erklärt Kraft:
«Viele Kinder in Kriegsgebieten sind massiv traumatisiert.»
Psychosoziale Betreuung sei deshalb ein wichtiger Aspekt humanitärer Hilfe. UNICEF unterstützt Partnerorganisationen im Aufbau von sogenannten «Safe Spaces» (sicheren Räumen), wie etwa an einem Sammelpunkt in Kosti, im Bundesstaat Weisser Nil. Jeden Tag treffen sich dort Hunderte von Kindern, wo sie an verschiedenen altersgerechten Aktivitäten teilnehmen können. Im Fokus stehe das Kindsein, sagt Kraft. Denn:
«Kindheit kann nicht warten.»
Ein UNICEF-Mitarbeiter sitzt mit Kindern in einem kinderfreundlichen Raum in Koufroun, einem Dorf im Osten Tschads.
Die Kinder können Sport treiben, spielen, sich kreativ ausleben, aber auch lernen, wenn sie das möchten. Ziel soll es sein, die Kinder dabei zu unterstützen, die schwierigen Dinge, die sie erlebt haben, hinter sich zu lassen.
Ein Ende des Krieges ist noch nicht in Sicht, bisherige Friedensverhandlungen mit den Konfliktparteien sind gescheitert. Die Arbeit von UNICEF und anderen Hilfswerken und Organisationen bleibt wichtiger denn je.