Ob Donald Trump oder Chinas Präsident Xi: Alle suchten den Rat von Henry Kissinger. Der Ex-Außenminister der USA galt als Großmeister der Realpolitik. Die einen bewunderten ihn dafür, andere hassten ihn.
Henry Kissinger, hier 1976 bei einem Besuch in Frankreich, ist im Alter von 100 Jahren gestorben
Kurz vor seinem 100. Geburtstag mischt er sich noch in die Weltpolitik ein. China und die USA liefen Gefahr, in einen Krieg der Großmächte hineinzustolpern, wenn sie ihr Verhalten nicht änderten, warnt Henry Kissinger in einem achtstündigen Gespräch mit dem britischen Magazin „The Economist“. Die Ausbreitung Künstlicher Intelligenz erhöhe das Risiko.
Er „hatte eine Kontrolle über die US-Außenpolitik, wie sie sonst nur Präsidenten erreichen“, würdigt die „Washington Post“ den Deutschen aus Fürth als Ausnahmefigur. Kissinger war als bisher Einziger parallel US-Außenminister und Nationaler Sicherheitsberater. Und erhielt den Friedensnobelpreis. Nun ist er im Alter von hundert Jahren und sechs Monaten gestorben.
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hatte er im Januar 2023 Vorschläge unterbreitet, wie sich der Ukrainekrieg beenden lasse. Auch wenn weder Russland noch die Ukraine darauf eingingen: Die halbe Welt berichtete, was der Altmeister der Realpolitik zu sagen hat. Untypisch war allenfalls, dass Kissinger sich korrigierte. Vor dem Krieg war er gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine. Nun hielt er ihn für unabdingbar für einen verlässlichen Frieden.
In der Kindheit war Wien wichtiger als Berlin
Seine Lebenserfahrung umspannt mehrere Epochen: Weimarer Republik. Hitlers Machtergreifung. Zweiter Weltkrieg. Kalter Krieg. Mauerfall und Triumph von Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft. Freilich nur vorübergehend. Rasch wuchsen neue Gefahren heran, darunter der Aufstieg Chinas. Den hatte Kissinger 1972 mit eingeleitet als Sicherheitsberater des US-Präsidenten Richard Nixon durch Nixons historischen Besuch in Peking. Daraus wurde sogar der Stoff für eine Oper, in der Kissinger als sexsüchtiger Frauenheld porträtiert wird.
Mit dem Alter wanderten seine Gedanken öfter in die Kindheit zurück. Dann glänzten seine Augen. Und die tiefe Bassstimme wurde lebhafter, wenn er von Fürth erzählt, wo er am 27. Mai 1923 auf die Welt kam. Und im Mai 2023 ein letztes Mal hinreiste für eine Gala zu seinem 100. Geburtstag.
In seiner Kindheit fuhr die Familie eher nach Wien und Karlsbad als nach Berlin, berichtete er. Es klingt, als habe sie die Reichshauptstadt als feindliches Ausland empfunden. 1934 wurde der Vater, ein Lehrer, mit 46 Jahren in den Ruhestand versetzt, weil er Jude war. Vier Jahre später rettete sich die Familie nach New York. Elf Verwandte, die in Deutschland blieben, starben im Holocaust.
1938 wird aus Heinz Alfred „Henry“, da ist er 15
Aus dem 15-jährigen Heinz Alfred wurde „Henry“ und später einer der meist bewunderten, aber auch meist gehassten Staatsmänner seiner Generation. Bis heute wissen die meisten Außenpolitiker, wer gemeint ist, wenn von „Henry“ die Rede ist, da braucht man keinen Nachnamen zu nennen.
Die Liebe zu Fürth ist ihm ein Leben lang geblieben. Ebenso die Leidenschaft für die Spielvereinigung Greuther Fürth.
Als Lausbub hat er Lücken im Zaun gesucht, um sich ins Stadion zu schmuggeln – voller Hoffnung, dass sein Club die Meisterschaft holt, wie 1926 und 1929. Später, da war er längst Außenminister und die Spielvereinigung in der Regionalliga, ließ er sich über die Spielergebnisse berichten.
Das Leben war hart, als die Kissingers 1938 in New York ankamen. Der Vater lernte auf Buchbinder um, die Mutter arbeitete im Catering. Henry und sein jüngerer Bruder trugen mit Jobs zum Lebensunterhalt bei. 1943 wurden sie zur Armee eingezogen. Henry kämpfte in den Ardennen gegen die Wehrmacht und leitete nach dem Krieg eine Abteilung der Spionageabwehr in Deutschland.
US-Präsident werden? Das ging nicht
1947 kehrte er in die USA zurück und studierte mit Stipendien in Harvard. 1969 wurde er Sicherheitsberater des Präsidenten Richard Nixon und 1973 der erste US-Außenminister, der nicht in Amerika geboren ist. Es ist die politische Variante der Märchenkarriere vom Tellerwäscher zum Millionär.
„Vier Außenminister sind Präsidenten geworden“, erzählt er gerne. Ihm blieb das verwehrt. Man muss in den USA geboren sein, um Präsident zu werden.
Wenn man mit ihm über sein Leben sprach, vermied er moralische Wertungen. Jede Zeit habe ihre Umstände und verlange eigene Antworten. Dann müsse man das Handeln anpassen. Für ihn ist das kein Widerspruch. Sondern pragmatische Notwendigkeit.
In der Zusammenarbeit zwischen Regierungen darf man nicht zulassen, dass die persönlichen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen.
Henry Kissinger über das Verhältnis von Sympathie und Interessen in der Außenpolitik
Als Kind sah er sich als „bayrischer Franke“ und hielt nicht viel von Berlin. Nach dem Mauerfall setzte er sich für den Wiederaufbau des Stadtschlosses der Hohenzollern ein.
Erst für, dann gegen Atomwaffen
Kissinger gehörte zu den Vordenkern eines atomaren Gleichgewichts des Schreckens. Seine Analyse „Nuclear Weapons and Foreign Policy“ von 1957 hatte ihn zu einem gefragten Berater gemacht. Fünfzig Jahre später warb er für „Global Zero“: eine Welt ohne Atomwaffen.
Als Staatsmann dozierte er: „In der Zusammenarbeit zwischen Regierungen darf man nicht zulassen, dass die persönlichen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen.“ Staaten handeln nach Interessen, nicht nach Sympathien. In der Ära des Ost-West-Konflikts gab er dem strategischen Gleichgewicht höhere Priorität als der Demokratie und den Menschenrechten. Seine Doktorarbeit hat den provozierenden Untertitel „The Problems of Peace“.
So wie er die Welt sah, erzwingt die Realpolitik mitunter Handlungen, die widersprüchlich wirken. Um die Sowjetunion an ideologischer Ausbreitung zu hindern, stützte Kissinger Militärdiktaturen in Südamerika und Afrika. Parallel suchte er die Entspannung mit den Kommunisten in China. In Vietnam betrieb er Anfang der 1970er Jahre geheime Friedensverhandlungen mit dem kommunistischen Norden. Im Nachbarland Kambodscha intervenierten die USA mit Flächenbombardements.
Für seine Gegner ist er ein Kriegsverbrecher
Seine härtesten Gegner sehen in ihm einen Kriegsverbrecher, der vor ein internationales Tribunal gehört hätte. 1973 soll Kissinger in Chile den Putsch des Generals Augusto Pinochet gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende sowie die Verfolgung linker Dissidenten abgesegnet haben. Und 1975 den Einmarsch Indonesiens in Ost-Timor.
Er sagt, sein Ziel sei stets gewesen, Eskalation zu verhindern und Konflikte zu entschärfen. Bewunderer ehren ihn als genialen Strategen und weitsichtigen Realpolitiker, der den Frieden befördert habe. Mit geheimen Reisen bereitete er den Ausgleich mit China und Nixons spektakulären Besuch in Peking 1972 vor.
Erfinder der „Shuttle-Diplomatie“
Er verhandelte das erste Rüstungsbegrenzungsabkommen mit Moskau, den SALT-Vertrag. Er gilt als Erfinder der „Shuttle-Diplomatie“ bei Friedensbemühungen im Nahen Osten.
Für den Friedensvertrag in Vietnam erhielt er 1973 gemeinsam mit Le Duc Tho den Friedensnobelpreis.
Im Gespräch zeigt er wenig Neigung zur moralischen Selbstverteidigung. Das Geschehene behandelt er wie Lehrstücke für Außenpolitik: Beispiele aus dem realen Leben statt Theorie aus Denkstuben.
Asien gewinnt an Gewicht. Das verringert aber nicht die unersetzliche Bedeutung Europas für Amerika.
Henry Kissinger
1977 wurde der Demokrat Jimmy Carter Präsident. Kissinger verließ die Regierung, nahm einen Lehrauftrag für internationale Diplomatie an, hielt hoch dotierte Vorträge, verdingte sich als Fernsehkommentator und schrieb seine Memoiren. Parallel gründete er seine Beratungsfirma in New York: „Kissinger Associates Inc.“ Könige und Konzerne aus aller Welt gehören zu seinen Kunden.
Geschäftlich setzte er gerne auf persönliche Beziehungen, auch wenn die in der realen Außenpolitik angeblich keine Rolle spielen sollen. Manchen Gästen gab er Einblick in sein Privatleben und nahm sie, zum Beispiel, zu „Top Dog“ mit: Schönheitswettbewerben seiner Hunde in New York.
Um Europa ist ihm am Ende seines Jahrhunderts nicht bange. Er sagt, er glaube nicht an die These vom Abstieg Europas und Aufstieg Asiens, auch nicht an eine geostrategische Wende der USA vom Atlantik zum Pazifik. Gewiss „gewinnt Asien an Gewicht. Das verringert aber nicht die unersetzliche Bedeutung Europas für Amerika.“
Die American Academy Berlin hat ihre höchste Auszeichnung nach ihm benannt. Zur diesjährigen Verleihung des Henry-Kissinger-Preises an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg konnte er nicht mehr kommen.
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