Düsseldorf. Sozialleistungen in Deutschland fallen zu üppig aus – so lautet ein häufiger Vorwurf. Zahlen eines Wirtschaftsinstituts zeigen, dass das so nicht stimmt. Warum der ehemalige Wirtschaftsweise und Lindner-Berater Lars Feld trotzdem fordert, den Anteil der Sozialausgaben zu senken.
Düsseldorfer Ökonom Südekum: Irrglaube, dass der deutsche Sozialstaat ein überbordendes und ständig wachsenden Monstrum ist.
Der deutsche Sozialstaat platzt aus allen Nähten, die Politik gibt immer mehr Geld für Sozialleistungen aus: Sätze wie diese fallen nicht nur an den Stammtischen der Republik, sondern auch in Expertendiskussionen. Ganz falsch sind sie nicht: Tatsächlich haben die Sozialausgaben in Deutschland in der Vergangenheit immer wieder Rekordniveaus erreicht. Erst 2022 setzte es mit knapp 1,18 Billionen Euro einen Höchstwert. Das wissen auch die Ökonomen Sebastian Dullien und Katja Rietzler. Sie arbeiten für das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung. Trotzdem kommen sie zu einem Schluss, der auf den ersten Blick überraschen mag: Sie sagen, dass es sich beim ständigen wachsenden Sozialstaat um eine Mär handle – eine oft erzählte Geschichte, die aber falsch ist. Wie kommen sie darauf?
Zunächst einmal argumentieren Dullien und Rietzler, dass neue Rekordausgaben in nominalen Zahlen ausgedrückt noch nicht sehr aussagekräftig sind. Weil Preise und Gehälter im Laufe der Zeit überall ansteigen, liegt es in der Natur der Sache, dass auch die Staatsausgaben größer werden. Für einen seriösen Vergleich dient daher nur das preisbereinigte Wachstum.
In ihrer kürzlich veröffentlichten Untersuchung schauen sich Dullien und Rietzler schließlich die deutschen Sozialausgaben im internationalen Vergleich an. Das Ergebnis: Während die deutschen Sozialausgaben in dem Zeitraum von 2002 bis 2022 um 26 Prozent angewachsen sind, fiel der Anstieg in den meisten untersuchten Ländern sehr viel höher aus. In Frankreich legten die Sozialausgaben um 35 Prozent, in der Schweiz um 64 Prozent zu. Länder wie Luxemburg, Polen und Irland liegen sogar bei einem Plus von über 100 Prozent – dort haben sich die öffentlichen Sozialausgaben innerhalb von 20 Jahren also mehr als verdoppelt. Auch das vermeintliche Mutterland des Kapitalismus, die USA, verzeichnen in dieser Statistik einen deutlich stärkeren Anstieg als die Bundesrepublik.
In einem zweiten Schritt vergleichen die Ökonomen, wie hoch der Anteil staatlicher Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist. Schließlich könnte es sein, dass die Sozialausgaben in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland nicht mehr so stark gestiegen sind, weil sie vorher schon vergleichsweise hoch lagen. Hinweise darauf finden sich aber nicht. Vielmehr liegt Deutschland mit staatlichen Ausgaben von 26,7 Prozent der Wirtschaftsleistung unauffällig im Mittelfeld. In Dänemark (26,2 Prozent) und Schweden (23,7 Prozent) fällt der Anteil nur unwesentlich geringer aus, in Frankreich (31,6 Prozent) und Italien (30,1 Prozent) liegen die Zahlen oberhalb des deutschen Niveaus.
Die USA, die Niederlande und die Schweiz befinden sich mit weniger als 20 Prozent zwar unter dem deutschen Anteil. Allerdings ändert sich das, wenn man nicht nur die staatlichen Sozialausgaben, sondern auch die privaten betrachtet. Darunter fallen in einigen Ländern Ausgaben für die private Krankenversicherung, die verpflichtend sind. Dabei mache es gesamtwirtschaftlich keinen Unterschied, ob jemand gesetzlich oder verpflichtend privatversichert ist, argumentieren die Autoren. Betrachtet man also die gesamten Sozialausgaben, liegen die Niederlande und die USA ungefähr gleichauf mit Deutschland. Auch der Abstand zur Schweiz fällt in diesem Fall kleiner aus. Was folgt aus diesen Erkenntnissen nun für Deutschland?
Führende Ökonomen zeigen sich von den Ergebnissen jedenfalls nicht überrascht. „Üblicherweise steht Deutschland bei diesen gesamtstaatlichen Quoten im Mittelfeld und nicht an der Spitze“, sagt der Wirtschaftsweise und Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen, Achim Truger, unserer Redaktion. Zugleich mahnt er, dass für die Politik aus diesen Erkenntnissen noch keine unmittelbaren Schlüsse zu ziehen sind. Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum sieht das ähnlich. Er sagt: „Die Untersuchung dient nicht dazu, wirtschaftspolitische Empfehlungen abzuleiten.“ Reformbedarf im deutschen Sozialstaat gebe es zuhauf. „Der demografische Wandel setzt jetzt erst richtig ein und bis 2030 wird der Fachkräftemangel dramatisch zunehmen“, sagt er. Darauf müsse unter anderem im Rentensystem reagiert werden.
Noch kritischer blickt Ifo-Präsident Clemens Fuest auf die Ergebnisse. Er weist darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit in den vergangenen 20 Jahren deutlich gefallen ist – ohne dass sich das in den Sozialausgaben bemerkbar gemacht hätte. „Bei unveränderten Regeln im Sozialstaat sollten die Sozialausgaben dann ebenfalls sinken. Das tun sie aber nicht“, sagt er. Verantwortlich dafür seien steigende Gesundheitsausgaben, was an einer alternden Bevölkerung liege. Angesichts des demografischen Wandels vermisst Fuest in dem Papier den Blick in die Zukunft. „Die Alterung wird den Druck zu mehr Sozialausgaben weiter steigern, gleichzeitig sinken die Einnahmen des Sozialstaats, weil immer weniger Menschen erwerbstätig sind“, sagt er. Außerdem müsse künftig mehr Geld für Verteidigung und Dekarbonisierung ausgegeben werden.
Noch weiter geht der Ökonom Lars Feld. Er war von 2011 bis 2021 einer der fünf Wirtschaftsweisen, mittlerweile ist er Berater von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Er warnt vor einem weiteren Ausbau des Sozialstaats in Deutschland, schon jetzt machten entsprechende Ausgaben rund die Hälfte des Bundeshaushalts aus. „Soll im Zeitablauf eine allmähliche Strukturveränderung hin zu höheren Verteidigungsausgaben führen, muss der Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt allmählich sinken“, sagt Feld unserer Redaktion. Das bedeute, dass die Sozialausgaben zumindest schwächer ansteigen müssten als das BIP, erklärte der Ökonom. Angesichts der Demografie und verfassungsrechtlicher Restriktionen wie dem Existenzminimum sei das aber nicht einfach. Feld fordert daher, „keinen weiteren Ausbau des Sozialstaats vorzunehmen. Eine solide Finanzpolitik verbietet Sozialausgaben auf Pump gerade angesichts der Dynamik, die sich aus der Demografie ergibt.“
Was bleibt bei aller Kritik also von der Untersuchung? Jens Südekum lobt die Analyse von Dullien und Rietzler trotzdem. Sie stelle die „hitzige Diskussion rund um den Sozialstaat auf eine sichere Faktenbasis“, sagt er. Und sie räume mit dem Mythos auf, dass der deutsche Sozialstaat ein „überbordendes und ständig wachsenden Monstrum“ sei. Dennoch: Dullien und Rietzler schauen mit ihrer Erhebung in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft. Richtig dürfte daher zweierlei sein: Zum einen, dass sich die Sozialleistungen in Deutschland gegenwärtig im Rahmen bewegen. Zum anderen aber auch, dass dieser Umstand die Politik nicht davon abbringen darf, notwendige Reformen voranzutreiben. Die alternde Bevölkerung wird die Sozialsysteme in den kommenden Jahren vor viele Herausforderungen stellen.
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