Deutscher Ex-Botschafter Hoffmann zum Ukraine-Krieg: „Auf allen Seiten Propaganda im Spiel“

deutscher ex-botschafter hoffmann zum ukraine-krieg: „auf allen seiten propaganda im spiel“

Russische Soldaten feuern eine S24-Mörsergranate auf ukrainische Stellungen ab.

Der ehemalige deutsche Karrierediplomat Hellmut Hoffmann war lange Zeit als Spezialist für Abrüstung und Rüstungskontrolle tätig. Mit der Berliner Zeitung sprach er über die Hintergründe des Ukraine-Kriegs und die Risiken einer rein konfrontativen Russlandpolitik.

Herr Hoffmann, seit Putins Krim-Annexion 2014 und erst recht seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine 2022 wird intensiv über Aufrüstung diskutiert. Sie waren als deutscher Diplomat viele Jahre mit Abrüstung befasst, sowohl vor 1990 als auch danach. Im Rückblick: War das der falsche Ansatz?

Keineswegs. Ohne Bereitschaft zu Abrüstung und Rüstungskontrolle, die seit Ende der 60er-Jahre integrale Elemente einer realistischen Politik der Verständigung und Vertrauensbildungsbildung waren, wäre das Ende des Kalten Krieges und damit die Wiederherstellung der Einheit Europas und Deutschlands 1989/90 nicht erreichbar gewesen. Wenn nun so getan wird, als ob die diesem Ansatz bis zum 23. Februar 2022 verpflichtete Politik aller Bundesregierungen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine begünstigt habe – und man dann auch noch Rechtfertigungen oder gar Entschuldigungen fordert –, dann stellt dies die Dinge auf den Kopf.

Trotzdem bleibt der Vorwurf, der Westen habe mit vorauseilender Verständigungsbereitschaft dazu beigetragen, dass Putin 2014 die Krim annektierte – die zu erwartende schwache Reaktion des Westens war ihm das Risiko offensichtlich wert. Haben wir nicht doch zu sehr auf Verständnis und zu wenig auf Verteidigung gesetzt?

Ganz im Gegenteil. Die neue Konfrontation ist vielmehr auf den Kraftverlust zurückzuführen, den die Politik der Verständigung und des Interessenausgleichs in den letzten Jahren auf vielen Seiten erfahren hat. Glaubt irgendjemand im Ernst, dass Putin seinen Angriffskrieg nicht begonnen hätte, wenn die Bundeswehr in einem „kriegstüchtigen“ Zustand gewesen wäre? Dass sich Russland mit seinem Angriff zutiefst ins Unrecht gesetzt und die europäische Sicherheitsordnung schwer verletzt hat, ist völlig klar. Ob es aber klug war, die Warnungen etwa eines Henry Kissingers – den man nun wirklich nicht der Putin-Versteherei verdächtigen kann – vor der Inaussichtstellung einer Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine in den Wind zu schlagen, ist eine andere Frage.

Wenn auch der Westen einen Beitrag zu der Konfrontation geleistet hat – wann begann das? Mit der Entscheidung Anfang der Neunziger, die Nato nicht aufzulösen? Mit der Osterweiterung? Oder erst mit der bewusst betriebenen Westintegration der Ukraine?

Ich glaube nicht, dass es die eine Zäsur gegeben hat. Die Ende der 90er-Jahre einsetzende Eintrübung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland war ein sich aufschaukelnder Prozess. Da gab es viele Gründe, nicht zuletzt auch die im Westen mit Besorgnis wahrgenommene innenpolitische Verhärtung in Putins Russland. Dass die Nato-Osterweiterung in Moskau sehr kritisch gesehen wurde, ist im Westen gern verdrängt, gar gezielt in Abrede gestellt worden. Dabei hatte George Kennan, der große amerikanische Diplomat und legendäre Russlandkenner, schon 1997 nachdrücklich vor gefährlichen Folgen einer Isolation Russlands in der europäischen Sicherheitsarchitektur gewarnt. Russland hätte sich mit der Nato-Osterweiterung nolens volens abgefunden – was sonst hätte es auch tun können? – aber die Ukraine war die rote Linie, das wusste jeder, der es wissen wollte. Als Putin in einem Artikel 2021 in drastischer Offenheit ankündigte, ein mit westlicher Unterstützung entstehendes „Anti-Russland“ vor seiner Haustür auf jeden Fall zu verhindern, ist dies nicht gesehen oder bewusst ignoriert worden.

In der Rückschau ist offensichtlich, dass das (vom Westen unterstützte) ukrainische Selbstverständnis von Souveränität und freier Bündniswahl mit dem russischen Selbstverständnis des Anspruchs auf Puffer- und Einflusszonen kollidieren musste. Hat der Westen diese Kollision nicht erwartet und nicht vorhergesehen? Oder hat man es darauf ankommen lassen?

Wie die Dinge intern eingeschätzt und welche operativen Schlussfolgerungen aus welchen Gründen und Motiven gezogen wurden, wird man – wenn überhaupt – erst nach Öffnung der Archive erfahren. Als die Bilder von Macron und Scholz an diesem absurd langen Tisch um die Welt gingen, fragte ich mich, ob die beiden Putin mehr gesagt hatten, als das Recht der Ukraine auf freie Bündniswahl zu unterstreichen. Dass der Hase hier im Pfeffer lag, war Scholz bewusst. Das war an seiner Bemerkung in der Pressekonferenz zu erkennen: Mit einem ukrainischen Nato-Beitritt während Putins Amtszeit sei nicht zu rechnen. Dass dies nicht reichen würde, musste jedem klar sein.

Die Sache war zweifellos äußerst schwierig. Abgesehen davon, dass Macron und Scholz kein substanzielles Verhandlungsmandat hatten, mussten sie berücksichtigen, dass die werteaufgeladene westliche Öffentlichkeit für einen realpolitischen Interessenausgleich in verantwortungsethischer Absicht kaum zugänglich ist, wenn ein solcher Interessenausgleich mit Werten wie etwa „Freiheit der Bündniswahl“ kollidiert. Insofern fand ich Scholz’ Äußerung sogar recht mutig. Wenn aber Krieg droht, ist eine Haltung nach dem Grundsatz „Es walte Gerechtigkeit, auch wenn die Welt zugrunde geht“ von höchst zweifelhaftem Wert.

Dass im Fall eines russischen Angriffs immense Risiken und Gefahren drohten – in erster Linie für die Ukrainer, aber auch für viele andere – war ja klar. Angesichts des heldenhaften Kampfwillens der Ukraine wird heute allzu leicht vergessen, dass damals die meisten einen russischen Sieg innerhalb weniger Tage erwarteten. Ich fürchte, es stimmt: Man hat es darauf ankommen lassen, aus welchen Gründen auch immer. Wie weitsichtig dies war, wird sich zeigen.

Jetzt haben wir den Schlamassel. Also stellt sich die Frage: Wie kommen wir da heraus? Und zwar alle Beteiligten. Mein Eindruck ist allerdings, dass die öffentliche Diskussion von dem Ziel bestimmt wird: Erst muss die Ukraine siegen, dann sehen wir weiter. Geht Ihnen das auch so?

Ja. Das Ganze ist eine große Katastrophe, für die Ukraine, für Russland, für Europa, sogar der globale Süden ist belastet. Mir kommt die eigentümlich gleichmütige Hinnahme von bereits mehreren Hunderttausend Opfern – Tote, Verletzte, bis ans Lebensende Gezeichnete – sehr merkwürdig vor, auch die Hinnahme der gewaltigen materiellen Schäden. In einer für die Ukraine immer schwierigeren Situation finde ich diese Haltung bei jenen besonders merkwürdig, die sich für die „Erst einmal muss die Ukraine siegen, dann sehen wir weiter“-Strategie stark machen. Mit dieser Art von Blindflug gehen sie eine sehr große Wette ein.

Aus all dem herauszukommen, ist außerordentlich schwer, denn keiner will eine falsche Bewegung machen, es ist die klassische Mikado-Situation. Man würde sich wünschen, dass sich die Europäer eine ernsthafte Verhandlungsinitiative zutrauen, bei der vor allem Deutschland und Frankreich Verantwortung übernehmen müssten. Da dies aber wenig wahrscheinlich ist, kann man momentan nur darauf hoffen, dass Biden das für ihn potenziell gefährliche Thema Ukraine vor den Präsidentschaftswahlen mit einer diplomatischen Initiative abräumt – sein Herausforderer Trump behauptet ja, dies innerhalb von 24 Stunden tun zu können.

Ob mit oder ohne Trump, falls die Ukrainer die Russen nicht von ihrem Territorium vertreiben können – wie müsste eine „ernsthafte Verhandlungsinitiative“ konkret aussehen, damit das Ergebnis mehr wird als ein Waffenstillstand bis zur Fortsetzung des Krieges?

Wer glaubt, dies abschließend beantworten zu können, kann sich für den Friedensnobelpreis vorschlagen! Ein paar Punkte lassen sich aber machen. Erstens: Eine weitere „Friedensinitiative“ der Unterstützer der Ukraine, die damit nur ihre Maximalziele bekräftigen, löst das Problem nicht. Zweitens: Um beide Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen, muss eine Friedensinitiative eine Sprache finden, mit der beide Seiten leben können. Drittens: Voraussetzung jeder Verhandlung ist das Bekenntnis zu staatlicher Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und territorialer Integrität sowie zum Prinzip gleicher Sicherheit. Viertens: Alle müssen deutlich machen, dass Kompromissfähigkeit erforderlich ist. Fünftens: Dritte Parteien sollten einen Friedensschluss mit Sicherheitsgarantien begleiten, die in die Strukturen der europäischen Sicherheit eingepasst werden. Sechstens: Für den Fall eines Missbrauchs des Verhandlungsprozesses sollten dritte Parteien ihre Entschlossenheit zu geeigneten Maßnahmen, beispielsweise mit Blick auf Waffenlieferungen, deutlich machen.

Im Westen sind viele überzeugt, dass Putin nicht nur das russisch-sowjetische Imperium wiederherstellen, sondern auch die Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, vielleicht sogar ganz Europa russischer Hegemonie unterwerfen will. Daher die lauter werdende Forderung nach Kriegstüchtigkeit. Wie sehen Sie das?

Ich frage mich, wie eine solch überzogene Sichtweise die Medien und Thinktanks in so großer Breite erfassen kann. Hier ist wohl auf allen Seiten, wie immer in Kriegen, viel Stimmungsmache, ja Propaganda im Spiel. In zwei Jahren haben es die russischen Streitkräfte nicht geschafft, die vier von Moskau annektierten Oblaste vollständig einzunehmen – aber wir sollen glauben, dass Putin so verrückt ist, sich mit einem Bündnis aus 32 Staaten, darunter die Supermacht USA und zwei weitere Nuklearmächte, militärisch anzulegen?

Wie hysterisch das ist, merken die meisten nur deshalb nicht, weil es jeden Tag durch Medien, Talkshows, Thinktanks und so weiter herumposaunt wird. Klar, die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine soll aufrechterhalten werden – was wäre da naheliegender, als die Gefahr weiterer russischer Aggression zu beschwören? Nach dem Motto: Sind wir bei der Ukraine nicht auch überrascht worden? Das ist das Ende jeder rationalen Herangehensweise. Vergleicht jemand die Streitkräfte Russlands und der Nato und versucht, seriös zu beurteilen, ob Russland überhaupt die entsprechenden Fähigkeiten hat? Ganz zu schweigen von der Plausibilität der unterstellten Absicht. Totale Fehlanzeige.

Dabei sehe ich durchaus, dass bei der Bundeswehr vieles in Ordnung gebracht werden muss. Das Problem ist hier vor allem, dass sie mit ihren Mitteln nicht effektiv umgeht, was auch der Bundesrechnungshof immer wieder moniert. Jetzt soll zum Beispiel für vier Milliarden Euro ein Raketenabwehrsystem beschafft werden, dessen Nutzen für Mitteleuropa Fachleute bezweifeln – und dabei steht die Frage im Raum, ob vor dem Kauf überhaupt eine fundierte Kosten-Nutzen-Analyse erarbeitet wurde.

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