Wolfgang Kubicki im Interview: „Viele in der FDP wollen, dass wir aus der Regierung austreten“

wolfgang kubicki im interview: „viele in der fdp wollen, dass wir aus der regierung austreten“

Wolfgang Kubicki ist Vize-Bundesvorsitzender der FDP, Rechtsanwalt und Bundestagsvizepräsident.

Hinter seinem Schreibtisch hängt ein großes Gemälde, Schiffe auf dem Meer, auf der anderen Seite des Raums ist ein großer Bildschirm, auf dem aus dem Plenum des Bundestags übertragen wird. Wolfgang Kubicki sitzt am Tisch in der Mitte des Raumes, der Norddeutsche, der Bundestagsvizepräsident.

Der Politiker, von dem es heißt, er sage wenigstens immer, was ihm auf dem Herzen liege. Er kritisiert auch Mitglieder der Ampelregierung, an der seine FDP beteiligt ist. Aber reicht das noch, beim Zustand der Koalition? Kubicki antwortet schnell und konzentriert, bevor er zurück ins Plenum muss, um zu „präsidieren“, wie er sagt.

Herr Kubicki, nur noch 40 Prozent der Deutschen glauben laut einer Umfrage, dass sie ihre Meinung frei äußern dürfen. So wenige waren es noch nie. Sie selbst sind als meinungsstark bekannt. Wer oder was schüchtert die Menschen ein?

Die Identifikation der Menschen mit unserer Demokratie bemisst sich auch daran, wie weit sie ihre Meinung frei sagen können. Das hat auch aus meiner Beobachtung bedenklich abgenommen. Aber nicht, weil der Staat, zumindest bisher nicht, die Meinungsfreiheit einschränkt. Sondern weil viele Menschen die Erfahrung machen, dass auf abweichende Meinungen gesellschaftliche Sanktionen folgen.

Der Staat schränkt die Meinungsfreiheit „bisher nicht“ ein? Wie meinen Sie das?

Ich sehe die Gefahr, dass er das tun könnte. Das beginnt schon bei der Aussage von Frau Faeser, der Innenministerin: „Wer den Staat verhöhnt, muss mit der vollen Härte des Staates rechnen“. Die Verhöhnung des Staates gehört quasi zur DNA der Satire! Diese satirische Verhöhnung dient auch dazu, im Diskurs Widersprüche herauszuarbeiten und dadurch den gesellschaftlichen Frieden zu sichern. Und wenn dann Herr Haldenwang, der Verfassungsschutzpräsident, die „Delegitimierung des Staates“ zu einem großen Problem erklärt, dann delegitimiert er sich damit in erster Linie selbst. Wenn man keine Plakate mehr aufhängen darf, bei denen sich möglicherweise Ricarda Lang oder Robert Habeck beleidigt fühlen, dann sind wir in Deutschland an einem Punkt, an dem die verfassungsmäßige Grundordnung beschädigt wird.

Der Verfassungsschutz will die „Delegitimierung des Staates“ künftig beobachten wie Links- oder Rechtsextremismus.

Das macht er bereits, so steht es im Verfassungsschutzbericht. Aber das ist ihm nicht erlaubt. Das Gute an einem Rechtsstaat ist, dass auch die Befugnisse dieser Behörde gesetzlich geregelt sein müssen. Ich werde deshalb künftig sehr sorgfältig darauf achten, dass hier keine Grenzüberschreitung vorgenommen wird. Es steht ohnehin keiner Behörde zu, darüber zu befinden, was im Rahmen der Meinungsfreiheit zulässig ist und was nicht. Das entscheiden Gerichte, nicht ein Behördenleiter.

Sie sind kein Fan von Thomas Haldenwang, dem Verfassungsschutzchef. Kürzlich haben Sie kritisiert, dass er zu oft öffentlich auftritt. Sollte Innenministerin Faeser ihn ablösen?

Ich glaube, dass Frau Faeser gut beraten wäre, Herrn Haldenwang nicht so sehr in die Öffentlichkeit zu zerren, und ihm nicht zu erlauben, von sich aus so sehr in die Öffentlichkeit zu gehen. Das widerspricht einfach dem Sinn eines Geheimdienstes.

Woher kommt Ihrer Meinung nach der Wunsch, Freiheit im Namen der Sicherheit einschränken zu wollen?

Es gibt keine absolute Sicherheit, das muss man akzeptieren. Auch eine ständige Ausweitung der Befugnisse führt nicht zur Verbesserung der Lage. Man könnte sich ja auch mal mit der Frage befassen, ob nicht ein größerer öffentlicher Meinungsstreit viel mehr zur gesellschaftlichen Befriedung beitragen kann. Nehmen Sie Schleswig-Holstein. Warum ist die AfD da nicht im Parlament vertreten? Weil der Kollege Ralf Stegner von der SPD und ich damals im Landtag offen gestritten haben. Der ehemalige Spitzenkandidat der AfD hat gesagt: Wo man einen Stegner und einen Kubicki hat, da ist für uns kein Raum. Das heißt nicht: Wir legitimieren rechtsradikales Gedankengut. Sondern das heißt: Wir zeigen den Menschen, dass man jedes Problem ansprechen und seine Meinung sagen kann.

In der Bundesregierung hoffen Ihre Koalitionspartner von SPD und Grünen auf ein anderes Mittel: das Demokratiefördergesetz. Warum lehnt die FDP dieses Instrument ab?

Zunächst gibt es rechtliche Probleme. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat das Projekt auf meine Bitte hin begutachtet und festgestellt, dass der Bund für diese Gesetzgebung gar nicht zuständig ist – die Demokratieförderung ist eine Aufgabe der Länder. Abgesehen davon finde ich: Man kann die Demokratie nicht dadurch fördern, dass man lauter NGOs finanziert, deren Existenzberechtigung hauptsächlich darin besteht, öffentliche Mittel abzugreifen. Die beste Demokratieförderung ist vernünftige Politik. Und vernünftiger Streit. Wahre Demokraten sind im Streit verbunden.

wolfgang kubicki im interview: „viele in der fdp wollen, dass wir aus der regierung austreten“

Es stehe keiner Behörde zu, „darüber zu befinden, was im Rahmen der Meinungsfreiheit zulässig ist und was nicht“, sagt Wolfgang Kubicki.

Wieso glauben SPD und Grüne, dass sich Demokratie so fördern lässt?

Das kommt aus der Überlegung, dass man selbst besser als alle anderen weiß, was richtig ist und deshalb die Menschen, die anderer Auffassung sind, auf eine bestimmte Art und Weise erziehen will. Dem liegt ein Menschenbild zugrunde, das jeder liberalen Grundhaltung zutiefst widerspricht: Man traut den Menschen nicht zu, dass sie selbst über ihr Leben frei entscheiden können. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wäre vielleicht das prominenteste Beispiel für dieses Denken, das sich in Politik und Medien ausbreitet.

Woran machen Sie das fest?

Ich gucke morgens jetzt immer das Morgenmagazin in ARD oder ZDF. Nicht, weil ich das toll finde, sondern weil mich diese Form von Erziehungsfernsehen sofort auf Betriebstemperatur bringt. Wenn ich höre, dass ich mich schämen soll, wenn ich Fleisch esse oder wenn ich nach Mallorca in den Urlaub fliege oder wenn ich nicht das Richtige denke. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll zur Meinungsbildung beitragen. Also nicht Meinung machen. Aber das funktioniert momentan nicht.

War das früher anders?

Ich will die Vergangenheit nicht verklären, es ist ja nicht so, dass dieses sozialpädagogische Denken aus dem Nichts aufgetaucht wäre. Aber ich glaube schon, dass seit Mitte der 2000er-Jahre, mit dem Aufkommen der Social-Media-Plattformen, sich das Klima wesentlich verschlechtert hat.

In den sozialen Medien sind viele Nutzer sehr moralisch unterwegs und verurteilen andere. Woher kommt Ihrer Meinung nach dieses Bedürfnis?

Das hat meines Erachtens vor allem damit zu tun, dass traditionelle Einrichtungen stark an Bindungskraft verloren haben. Wer sich früher über alles Mögliche austauschen wollte, ist zum Beispiel in den Sportverein gegangen. Und für den Glauben gab es die Kirche. Heute sucht man in den sozialen Medien seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Gerade im aktivistischen Milieu sind viele Menschen für Gegenargumente nicht zugänglich.

Dann folgen die Sanktionen auf abweichende Meinungen, die Sie angesprochen haben?Man wird sehr schnell in Schubladen einsortiert. Es geht nicht mehr um das Argument, sondern um die Haltung. Wenn ich sage, wir müssen Waffen an die Ukraine liefern, dann heißt es: Der hat wahrscheinlich Rheinmetall-Aktien. Was nicht stimmt – ich habe keine Aktien. Man muss aufpassen, dass man nicht verlernt, in der Sache zu debattieren.

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„Man wird sehr schnell in Schubladen einsortiert“, kritisiert Wolfgang Kubicki – auch in der Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine.

Sie haben im Bundestag für die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine gestimmt, obwohl Ihre Koalition dagegen war. Würden Sie in dieser Frage noch einmal gegen das eigene Lager stimmen?

Zunächst einmal verstehe ich diejenigen, die zurückhaltender sind. So verstehe ich Olaf Scholz und andere: Lieber einen Tag länger warten, als einen Tag die möglichen negativen Konsequenzen spüren. Aber wir müssen alles dafür tun, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert. Wir haben uns entschieden, das Land zu unterstützen. Dann müssen wir auch alles unternehmen, was wir können. Dazu gehört für mich auch die Lieferungen von Taurus-Raketen. Dass Russland das dann als kriegerischen Akt deuten könnte, liegt nicht in unserer Hand. Putin kann auch die Lieferung von Stahlhelmen für einen kriegerischen Akt halten.

Wie blicken Sie im Moment auf Russland?

Ich maße mir nicht an, die russische Seele vollständig zu kennen. Aber bestimmte Überlegungen sind klar: Die Russen werden sich nicht erpressen lassen, sie werden sich auch nicht demütigen lassen. Und sie – damit meine ich jetzt vor allem die Führung unter Putin – haben auch deshalb einen imperialen Ansatz, weil sie über mehrere Jahre hinweg das Gefühl hatten, sie werden nicht mehr ernst genommen. Das rechtfertigt nicht den Angriff auf die Ukraine. Aber auch deshalb müssen wir jetzt sagen, mit aller Härte und aller Konsequenz: Alles, womit wir helfen können, seien es Waffen oder andere Ausrüstung, müssen wir so schnell wie möglich liefern. Jeder weitere Tag, an dem die Russen vorrücken oder an dem ukrainische Städte bombardiert werden, ist ein schlechter Tag.

Man hat mitunter den Eindruck: Die Zeit für die Ukraine läuft ab.

Sie läuft nicht ab, sondern es gibt einen Gewöhnungsprozess. Das kenne ich auch von mir. Früher habe ich jeden Morgen eingeschaltet, um zu erfahren, was in der Ukraine passiert ist. Jetzt bekomme ich vor allem mit, wenn etwas Außergewöhnliches passiert ist. Wir gewöhnen uns an die Situation, was brandgefährlich ist. Denn das ist das Einfrieren des Krieges in den Köpfen der Menschen. Das, was Rolf Mützenich gerne faktisch will, passiert in den Köpfen der Menschen, und damit lässt die Bereitschaft für Unterstützung nach.

In knapp anderthalb Jahren ist Bundestagswahl. Sie haben gesagt, von einer weiteren Koalition mit den Grünen raten Sie Ihrer Partei ab. Gleichzeitig gibt es Projekte, zu denen auch die FDP ihre Zustimmung gibt. Das Selbstbestimmungsgesetz ist ein Beispiel, das hat der Bundestag am Freitag beschlossen.

Ich habe dem nicht zugestimmt.

Wie begründen Sie Ihre Ablehnung? Und wie stehen Sie dazu, dass die FDP das Gesetz mitträgt?

Ich habe mich enthalten, so wie ich das schon in der letzten Wahlperiode bei einem vergleichbaren FDP-Entwurf getan habe. Hierzu habe ich eine persönliche Erklärung formuliert. Mich stört unter anderem, dass wir – anders als bei der „Ehe für alle“ oder der überfälligen Streichung des sogenannten „Schwulenparagraphen“ im Strafgesetzbuch – eine sexualpolitische Reform einleiten, der nicht vorher eine längerfristige gesellschaftliche Entwicklung vorangegangen ist. Jetzt, so jedenfalls mein Eindruck, beseitigen wir nicht durch ein Gesetz ein mehrheitliches Störgefühl, sondern beschwören es eher herauf. Das finde ich problematisch.

Meine Fraktion sieht das mehrheitlich anders als ich. Natürlich tragen wir Verantwortung für alles, was die Koalition macht, weil wir Teil der Koalition sind. Aber wir sind nicht Verursacher bestimmter Projekte, denen wir nur deshalb zustimmen müssen, weil wir erwarten, dass die anderen Koalitionäre auch unseren Projekten zustimmen. Das ist in einer Koalition so: Wir regieren nicht alleine, und dankenswerterweise regieren Sozialdemokraten und Grüne auch nicht alleine. Aber das Entscheidende in der Koalition ist der Kompromiss.

Sie kritisieren immer wieder Ihre Koalitionspartner. Viele Menschen sind genervt vom ständigen Streit innerhalb der Ampel. Sie nicht?

Der Zauber der Anfangswochen ist auch bei mir verflogen. Am Anfang war es ehrlich gemeint von allen drei Koalitionsparteien, wir wollten Deutschland zusammen modernisieren. Die ersten Konflikte sind aufgetreten, als wir mit neuen Problemen konfrontiert waren, vor allem dem russischen Großangriff auf die Ukraine. Urplötzlich war klar: Es musste ein Aufrüstungsbudget geben, weil ja auch unsere eigene Sicherheit bedroht war. Das Geld, mit dem man glaubte, Projekte finanzieren zu können, war einfach nicht mehr da. Man hat sich darüber hinweggemogelt, bis das Bundesverfassungsgericht gesagt hat: Eure kreative Haushaltsführung ist mit der Verfassung nicht vereinbar.

Inzwischen hat man bei der Ampel dasselbe Gefühl wie bei einer schlechten Ehe. Es passt einfach nicht. Warum sind Sie noch zusammen?Weil wir noch gemeinsame Kinder erziehen müssen. Aber Scherz beiseite. Ganz augenscheinlich liegen wir schon in manchen Grundannahmen, in der Herangehensweise an Staat, Wirtschaft und Gesellschaft oft nicht zusammen.

Wer sind denn diese Kinder, um die Sie sich noch gemeinsam kümmern müssen?

Eine Aufgabe, die wir gemeinsam lösen müssen: Den Frieden bewahren. Und als Zweites müssen wir die Frage beantworten: Wie steuern wir Migration? Wir brauchen hier in Deutschland Migration. Definitiv. Aber bedauerlicherweise kommen momentan häufig die falschen Leute zu uns.

Und um das zu regeln, muss die Koalition halten?

Was wäre die Alternative? Ich habe gesehen, wie die Große Koalition mit dem Thema umgegangen ist. Das war auch nicht gerade ein Highlight.

wolfgang kubicki im interview: „viele in der fdp wollen, dass wir aus der regierung austreten“

Was die Kernaufgaben der Regierung sind? Laut Kubicki soll sie in erster Linie „den Frieden bewahren“ und „Migration steuern“.

Nach der Sommerpause wird wieder über den Haushalt verhandelt. Wird es da noch mal richtig kritisch?

Wir werden uns an den Eckdaten der mittelfristigen Finanzplanung orientieren müssen, weil wir gar keine Ausweichmöglichkeiten haben. Und das bedeutet, dass der Finanzminister, wenn er sich mit den Ministern jeweils nicht anders einigen kann, den einzelnen Ressorts schlicht und einfach die Beträge zuweist, die sie ausgeben dürfen. Punkt. Man kann den Finanzminister im Kabinett überstimmen, allerdings nur mit der Stimme des Bundeskanzlers. Sollte der Bundeskanzler gegen den Finanzminister stimmen, würde er damit die Koalition beenden. Das wäre dann ja allen klar.

Hält Ihre Kritik an der Ampel FDP-Anhänger bei Laune?

In meinem Umfeld sagen viele: „Toll, ihr verhindert den größten Mist. Aber kleiner Mist ist auch Mist.“

Christian Lindner sagte mal: Besser gar nicht regieren als schlecht regieren. Gilt das nicht mehr für die FDP?

Viele in der FDP wollen, dass wir aus der Regierung austreten. Ich habe mich bei der Mitgliederbefragung dafür eingesetzt, dass wir in der Regierung bleiben. Spielen wir mal durch, was passiert, wenn wir aussteigen. Sofort Neuwahlen? Das muss nicht so kommen. Es kann auch eine rot-grüne Minderheitsregierung geben, weil SPD und Grüne sagen: Ihr von der FDP oder von der Union werdet doch nicht gemeinsam mit der AfD eine Mehrheit gegen uns herstellen. Wenn es tatsächlich Neuwahlen gibt, legen wir Deutschland erst einmal lahm, und das in einer Phase, wo es wirklich um viel geht in Europa. Dann würden viele sagen: Wären wir nur beim Alten geblieben.

Unabhängig von solchen Gedankenspielen: Wie lange kann die Ampel noch überleben?Diese Ampel hat noch eine Chance, die letzten anderthalb Jahre vernünftig auf die Reihe zu bringen. Davon bin ich überzeugt. Das setzt allerdings voraus, dass wir nicht einfach nur eine Politik der kleinsten gemeinsamen Nenner machen. Wir müssen uns jetzt konzentrieren. Im Hinblick darauf, was wichtig ist für die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens und für die Sicherung unserer Grenzen, sowohl nach innen wie nach außen. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Aber wenn wir das bis zum Sommer nicht schaffen, uns als Koalition zusammenzuraffen, dann werden wir es überhaupt nicht mehr schaffen.

Am Ende des Sommers wird in Thüringen, Sachsen und Brandenburg gewählt. Warum hat die FDP im Osten so schlechte Chancen?

Es wird für die FDP in allen drei Ländern nicht einfach. Und zwar deshalb, weil fast unsere komplette Führungsriege nach wie vor westdeutsch sozialisiert ist und die Menschen in Ostdeutschland in bestimmten Bereichen völlig anders ticken. Das betrifft ja nicht nur die FDP. CDU, SPD und Grünen geht es genauso. Das hat etwas mit der Geschichte, aber auch mit der Nachwendeerfahrung im Osten zu tun. Damit meine ich das Gefühl, nicht ernst genommen worden zu sein, dass man abgehängt wurde. Der Strukturwandel in der Industrie, von dem wir heute überall in Deutschland sprechen, hat in der ehemaligen DDR als Erstes voll durchgeschlagen. Aber viele westdeutsche Führungskräfte oder Politiker kamen damals in den Osten mit der Attitüde: Die sollen sich mal nicht so anstellen, sie kriegen ja eh Geld vom Staat. Aber das ist doch nicht das Kriterium. Menschen wollen vernünftig leben können auf Grundlage ihrer eigenen Tätigkeiten.

wolfgang kubicki im interview: „viele in der fdp wollen, dass wir aus der regierung austreten“

„Fast unsere komplette Führungsriege ist nach wie vor westdeutsch sozialisiert“, bemerkt Wolfgang Kubicki mit Blick auf die kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg.

Die Ostdeutschen haben extrem viel geleistet in den letzten 30 Jahren – Leistung könnte doch das Thema sein, mit dem die FDP im Osten punktet.

Ich erinnere mich an meinen ersten Wahlkampf in Ostdeutschland. Das war Anfang 1990 in Mecklenburg-Vorpommern, vor der ersten freien Wahl in der DDR, noch vor der Wiedervereinigung. Zu den zugelassenen Parteien gehörte auch die Schwester der FDP. Da kamen aus dem Westen die Freien Demokraten nach Rostock, als gerade die Neptun-Werft zugemacht worden war, und haben plakatiert: „Leistung muss sich wieder lohnen“. Wir haben bis heute im Osten ein Kommunikationsproblem.

In Thüringen tritt Thomas Kemmerich als Spitzenkandidat der FDP an. Weil er sich mit den Stimmen der AfD vor fünf Jahren zum Ministerpräsidenten wählen ließ, unterstützt die Bundes-FDP ihn nicht im Wahlkampf. Ist das klug?

Ich halte diese Entscheidung mittlerweile für unverhältnismäßig, aber ich halte mich an den Beschluss und werde mich an seinem Wahlkampf nicht beteiligen. Außer dass Thomas Kemmerich mal zehn Sekunden neben sich stand und eine falsche Entscheidung getroffen hat, ist ihm nichts vorzuwerfen. Er ist mit 89 Prozent der Stimmen zum Thüringer Spitzenkandidaten seiner Landespartei gewählt worden. Ich selbst war ja mit meinem Landesverband lange Zeit ein Paria. Man hielt mich für den Quartalsirren aus dem Norden. Bis die FDP aus dem Bundestag rausflog und alle gesagt haben: So ein Typ wie Kubicki, das ist die FDP.

Sonst reisen Sie in den Osten, um Wahlkampf zu machen?

Ja, und bisher sind die Hütten immer voll. Meine Erfahrung im Osten ist: Wenn ich den Leuten erklären kann, warum ich bestimmte Dinge anders sehe als sie, dann respektieren sie das. Sie müssen ja nicht alles teilen, was ich sage. Viele sehen sogar die meisten Dinge anders als ich. Aber wenn sie sehen: Er sagt, was er denkt, und er steht dazu, dann kommt man ins Gespräch. Es ist leider in vielen Bereichen verloren gegangen, dass man politische Entscheidungsprozesse nachvollziehbar macht. Man denke nur an die Zeit der Corona-Pandemie!

Sie plädieren für eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der politischen Entscheidungen in der Pandemie. Wie kann eine Aufarbeitung gelingen, die nicht im Parteienstreit untergeht?

Eine Enquete-Kommission unterscheidet sich von einem Untersuchungsausschuss darin, dass sie nicht nur von Politikern besetzt wird, sondern auch von Wissenschaftlern. Und zwar verschiedener Fachbereiche. Deren Aufgabe besteht nicht darin, Schuldige zu suchen oder Verantwortlichkeiten zuzuordnen, sondern zu gucken, ob strukturelle Entscheidungen richtig gelaufen sind. Ich glaube auch, dass man die Wahlergebnisse der AfD ein Stück weit reduzieren würde, wenn man die Entscheidungen während der Pandemie offenlegt, benennt und transparent macht.

Wann wäre denn mit einer Enquete-Kommission zu rechnen?

Nicht mehr in dieser Legislaturperiode. Aber der Druck wird massiv zunehmen. Es gibt nach wie vor viele offene Wunden in der Gesellschaft. Menschen wurden als Verrückte und Mörder beschimpft, weil sie sich nicht haben impfen lassen. Viele von ihnen leiden bis heute darunter, teils haben sie sogar deswegen ihren Beruf verloren. Die Wunden heilen Sie nur, wenn Sie den Menschen das Gefühl geben, dass sie ernst genommen werden. Und das geht nur durch Aufarbeitung.

Was müsste aus Ihrer Sicht dabei dringend besprochen werden?

Viele Politiker haben sich damals für „Team Vorsicht“ statt „Team Augenmaß“ entschieden, weil ersteres honoriert und letzteres abgestraft wurde. Das war auch in den Medien oder der Wissenschaft so. Es gibt Stellungnahmen aus der Leopoldina, die sind an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Oder von Frau Alena Buyx aus dem Ethikrat, die jetzt auf einmal auch die Aufarbeitung für sich entdeckt hat. Oder von Christian Drosten, der sagt, wir hätten es besser hinbekommen als die Schweden. Was nachweislich falsch ist. Sie sind insgesamt, was die Todeszahlen und die Akzeptanz der Bevölkerung für die Empfehlungen der Regierung angeht, besser durch die Pandemie gekommen als wir. Sie appellierten eben an die Eigenverantwortung der Menschen.

wolfgang kubicki im interview: „viele in der fdp wollen, dass wir aus der regierung austreten“

Für Wolfgang Kubicki führt an der Aufarbeitung der politischen Entscheidungen in der Corona-Pandemie kein Weg vorbei. „Der Druck wird massiv zunehmen“, sagt er.

Was muss die FDP aufarbeiten?

Meine Partei und ich haben selbst am Anfang vielen dieser Maßnahmen zugestimmt, weil keiner wirklich wusste, wie man mit dem Virus umgehen kann. Aber schon Anfang April 2020 habe ich in einem Gastbeitrag die damals ketzerische Frage gestellt, wo denn eigentlich die verfassungsrechtlich notwendigen Begründungen für die Grundrechtseingriffe seien. Mit jedem weiteren Tag der Erkenntnis wuchsen die Anforderungen für Eingriffe des Staates in persönliche Freiheiten.

Was haben Sie selbst in der Pandemie falsch gemacht?

Auch ich habe mich auf bestimmte Sachen eingelassen, auf die ich mich bei Kenntnis der Sachlage eigentlich nicht hätte einlassen dürfen. Zum Beispiel die einrichtungsbezogene Impfpflicht, der ich zugestimmt habe. Klar, damals war noch die Delta-Variante des Virus vorherrschend, die war gefährlicher als Omikron. Aber das wäre nur eine halbe Entschuldigung. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht war aus meiner Sicht ein Fehler. Sie war ein massiver Grundrechtseingriff, der nicht faktenbasiert, sondern angstgetrieben erfolgte.

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