«Kaum einer lebte damals wirklich seriös»

René Kiener ist in Bern ein Stadtoriginal. Statt mit einer Maske stellte er sich lieber in der Badehose ins Tor. Der 85-Jährige schlug auch über die Stränge. Und brauchte Hilfe.

«kaum einer lebte damals wirklich seriös»

René Kiener markierte 1955 den Beginn der Berner Goalie-Tradition. Er ist zweifacher Meister und Cupsieger.

Das Eis in der Postfinance-Arena ist abgetaut. Dort, wo sich sonst die Spieler duellieren, steht nun eine Mülltonne. Zwei Wochen nach dem Saisonende ist Aufräumen angesagt. René Kiener sitzt derweil im Stadionrestaurant vor einer Tasse Kaffee. Er hat sich vorsichtshalber den nicht ganz leichten Namen des Journalisten notiert, damit er ihn auch ja nicht vergisst. Trotzdem bietet er, wenn auch zögerlich, das Du an. Es ist im Sport Usus. Kiener aber stammt aus einer Zeit, in der Gegenspieler noch gesiezt wurden. Er bedankt sich für das Interesse und sagt mit einer Prise Selbstironie: «Noch weiss ich, was ich erzählen soll.»

Kiener wird im Mai 86 Jahre alt. Er ist geistig und körperlich fit, auch wenn er etwas gebückt geht. Das komme daher, dass er während seiner Karriere oft habe hinter sich greifen und Pucks herausfischen müssen, scherzt der Mann, der oft auf der Ka-We-De anzutreffen ist. Im Sommer im Freibad, im Winter auf der Eisbahn. Bevor die Anlage Ende Saison ihre Tore schloss, drehte Kiener noch zwei Stunden lang seine Runden. Er tat dies in seinen übergrossen Torhüter-Schlittschuhen von damals. Die Blicke anderer Gäste waren ihm gewiss.

Kiener markierte beim SCB den Beginn der grossen Torhütertradition. 1955, beim 10:13 gegen Serienmeister Arosa, kam der damals 17-Jährige im letzten Drittel zu seinem ersten Einsatz. Dass er sich gegen die Starstürmer Hans-Martin Trepp und Ueli und Gebi Poltera beweisen durfte, macht ihn heute noch stolz. Seine Leistung war am nächsten Tag das Stadtgespräch. Die Bäckersfrau im Schönauquartier erzählte jedem: «Heit dir scho ghört, dass geschter dr René, dä chli Gagu, im Gou gstange isch?» Der Spitzname «Gagu» war geboren.

Achtzehn Jahre lang hütete der Mann mit den tausend Händen das Tor des SC Bern. Dreizehn Jahre lang tat er dies ohne Helm und Maske, wurde unzählige Male vom Puck im Gesicht getroffen. Nach einem Geschoss aus zwei Meter Entfernung brach sich Kiener in Paris einst das Jochbein und verbrachte drei Tage im Spital. Sonst habe er bloss kleinere Blessuren erlitten, hält der Stadtberner fest.

Zur damaligen Zeit erhielten die Torhüter 15 Minuten Zeit, um sich verarzten oder auswechseln zu lassen. Ein Ersatz stand, wenn überhaupt, meist in Strassenkleidern unter den Zuschauern und musste sich erst umziehen.

Kiener warf die Maske ins Publikum

Wäre es nach Kiener gegangen, er hätte seine gesamte Karriere hindurch ohne Maske gespielt. Erst das Einführungsgebot zwang ihn Ende der 1960er-Jahre dazu, sein Gesicht zu schützen. Als er während der Übergangssaison erstmals eine Maske trug, warf er sie nach einem frühen 0:2-Rückstand in Langnau kurzerhand ins Publikum. Bern gewann danach 4:2.

«Der Gesichtsschutz», sagt Kiener, «lag direkt auf der Haut. Die Wucht der Schüsse vermochte er nur unzureichend zu dämpfen. Wer getroffen wurde, musste sich trotzdem verarzten lassen. Am meisten störte mich der eingeschränkte Blickwinkel. Man musste ständig den Kopf drehen.»

Kiener war bekannt für seine Reaktionsfähigkeit. Furcht kannte er keine, stellte sich im Sommertraining sogar in den Badehosen ins Tor und parierte Pucks, die von einer Glasplatte aus geschossen wurden. 1959 führte Kiener den SCB zum ersten Meistertitel. Sechs Jahre später folgte Titel Nummer 2. Die Pokalübergabe in Villars musste in der Garderobe stattfinden, weil das Eis mit Berner Fans gesäumt war. Doch wer Kiener fragt, was ihm am meisten in Erinnerung geblieben ist, dann kommt er auf eine WM-Niederlage gegen die Trail Smoke Eaters, die Rauchfresser, zu reden.

0:23 verlor die Schweiz gegen die aus Minenarbeitern bestehende kanadische Auswahl. Als wäre es gestern gewesen, erzählt Kiener, wie die Gegner plötzlich im Schweizer Drittel stehen geblieben waren und der Torhüter seinen Kasten verlassen hatte. «Die Kanadier wollten uns ein Tor ermöglichen», so Kiener. «Peter Stammbach übernahm die Scheibe, zog los, verlor an der gegnerischen blauen Linie aber das Gleichgewicht.» Die erhaltene Kristallvase für den besten Spieler seines Teams besitzt Kiener noch heute.

Mit dem SCB gab es auch Kantersiege. Gegen Basel etwa. 20:0 hiess das Resultat. Unvergessen auch deshalb, weil der Goalie übermütig wurde und selbst einen Torerfolg anstrebte. Auf der Mittellinie angekommen, wurde er vom tobenden Trainer Ernst Wenger zurückbeordert.

Und dann kamen die Alkoholprobleme

Kiener ist ein Stadtoriginal, allseits beliebt und im Vergleich zu anderen Torhütern offen und gesellig. Nahezu jeder Zweite fragte: «Gömmer eis go zieh?» Als selbstständiger Grafiker hatte er Zeit, war niemandem Rechenschaft schuldig und konnte nur schwer Nein sagen. Kiener verfiel dem Alkohol, bezeichnete sich später selbst als «Wohlstandssäufer». Heute spricht er offen und ungefragt über das Thema.

Richtig schlimm wurde es nach dem Rücktritt. Kiener erzählt, wie er die Sommertage jeweils mit einem wohlhabenden Kollegen in dessen Villa am Swimmingpool verbrachte. Hin und wieder gesellten sich Frauen dazu. Als eines Tages die Getränke zur Neige gingen, fuhr er mit dem Velo in den Sternen, kaufte sich dort eine Flasche Whisky der Marke Ballantines und trank mit den anwesenden Polizisten und dem Postboten noch ein Bier – bis der Gemeindepräsident das Lokal betrat.

«kaum einer lebte damals wirklich seriös»

45 Jahre nachdem sich René Kiener in die psychiatrische Klinik hat einweisen lassen, spricht er offen über das Thema Alkohol.

«Er sagte: René, so geht das nicht mehr. Jetzt gehst du nach Hause, ziehst dich um und kommst in mein Büro.» Kiener, der seinen Olympiatrainer trug, entgegnete: «Wir gehen jetzt oder gar nicht.» Die Goalie-Legende liess sich in die psychiatrische Klinik Münsingen einweisen und verbrachte anschliessend sechs Monate in der Rehaklinik Walzenhausen. 45 Jahre ist das nun her. «Seit dem 18. September 1979 habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken», sagt Kiener. Das Datum ist ihm ins Gedächtnis eingebrannt.

Auch andere schlugen über die Stränge. «Viele Spieler haben zudem geraucht. Kaum einer lebte damals wirklich seriös», sagt der Mann, der für den SCB mehr als 400 Spiele bestritt. Es war die Zeit vor dem Profitum. Geld war mit dem Sport kaum zu verdienen. 50 Franken plus Prämien gab es pro Einsatz. Vor wichtigen Partien traf man sich zum gemeinsamen Essen. «Zwei Stunden vor Spielbeginn gab es Filet, Hörnli oder Reis. Das Thema Ernährung fand kaum Beachtung.»

Kiener war fasziniert, als ihm im Rahmen eines Legendentreffens von Sven Leuenberger, dem vierfachen Berner Meisterverteidiger und ZSC-Sportchef, kürzlich die Swiss-Life-Arena gezeigt wurde. Ungläubig berichtet er von den Annehmlichkeiten, die er dort vorfand, wie dem Bett in der Loge von Präsident Walter Frey oder den prunkvoll eingerichteten Garderoben. Kein Vergleich zur damaligen Ka-We-De, als die Protagonisten nach Spielende erst durch die öffentlichen Toiletten mussten, um zu den drei Duschen zu gelangen. «Es gab Eisbahnen, da standen gar keine Duschen zur Verfügung. Wer sich in Langnau oder Freiburg waschen wollte, musste in die Ilfis oder in die Saane.»

Das Einzige, was gleich geblieben sei, seien Puck und Eis. «Ansonsten liegen zwischen damals und heute Welten. Meine Beinschoner waren noch mit Rosshaar gefüllt und acht Kilo schwerer als jene von Renato Tosio zwei Jahrzehnte später. Regnete es, vermochten sie bis zum nächsten Einsatz nicht zu trocknen. Es gab keine Heizung, nichts.»

«kaum einer lebte damals wirklich seriös»

Rene Kiener im Duell gegen den SC Langnau im Dezember 1961.

Zurückgetreten war Kiener 1973 wegen Differenzen mit Spielertrainer Paul-André Cadieux. Schon beim ersten Aufeinandertreffen in der «Bierquelle» stimmte die Chemie zwischen den beiden nicht. Die Tatsache, dass Bern eigentlich den sechs Jahre älteren Bruder und Olympiasieger Raymond Cadieux verpflichtete, die Brüder aber den falschen Cadieux nach Bern schickten, trug das Ihre dazu bei.

Ein Clubwechsel kam für Kiener nicht mehr infrage. Ein einziges Mal wurde ihm eine Offerte unterbreitet, er prüfte einen Wechsel nach Genf, doch der Trainer und TK-Chef Ernst Wenger konnte ihn zu einem Verbleib motivieren.

«Marc Lüthi liegt genau richtig»

Als Kiener nach der Karriere den Tritt wieder fand, begann er zu segeln. In der H-Boot-Klasse gewann er mehrere nationale Titel. Dem SCB blieb er als Zuschauer treu. Noch immer besucht der Mann, dessen Nummer 0 als Erste vom Club zurückgezogen wurde, sämtliche Heimspiele. Sein Sitzplatz befindet sich oberhalb der verlängerten Torlinie, sodass er den Goalie stets im Blickfeld hat. «Ich bin kein Fan», stellt Kiener klar. «Niederlagen ärgern mich nicht. Während des Spiels halte ich mich mit Kommentaren zurück und kritisiere auch nicht.»

Trainer Jussi Tapola imponiert ihm. Der Finne habe die Mannschaft im Griff. Auch die Torhüter würden gute Arbeit verrichten. Insgesamt sei es keine schlechte Saison gewesen, urteilt Kiener. «Doch Marc Lüthi liegt mit seiner Kritik an den Ausländern genau richtig. Mit besserem Personal wäre gegen Zug mehr möglich gewesen.»

Am 21. Mai wird René Kiener 86. An seinem Beliebtheitsgrad hat sich nichts geändert. Als er beim Abschied von Philippe Furrer zur Autogrammstunde aufgeboten wurde, dachte er an einen schlechten Scherz, sagte: «Mich kennt doch keiner mehr!» Schliesslich musste er fast 90 Minuten Autogramme geben.

«kaum einer lebte damals wirklich seriös»

Als erste Nummer zog der SCB die 0 von René Kiener zurück. Sie wird nicht mehr vergeben.

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