Polnischer Fernsehkrimi: Besuch bei den Besatzern des polnischen Senders TVP

polnischer fernsehkrimi: besuch bei den besatzern des polnischen senders tvp

Jaroslaw Kaczynski in der TVP-Zentrale am 20. Dezember

Mitten in Warschau steht das sechsstöckige Gebäude des öffentlich-rechtlichen Senders TVP, ausgerechnet am Platz der Warschauer Aufständischen. Hier fechten die neue Mitte-links-Regierung unter Donald Tusk und die neue nationalkonservative Opposition unter Jarosław Kaczyński momentan ihren spektakulärsten Konflikt aus. TVP-Journalisten weigern sich, das Haus zu verlassen. Die Polizei hat das Gebäude mit Flatterbändern abgesperrt. Nur einer der Eingänge ist noch offen. Wer hineinwill, muss vorbei an den Polizisten, am Wachschutz und am Weihnachtsbaum. Die „Widerständler“ freuen sich, dass offenbar zum ersten Mal ein ausländischer Journalist vorbeikommt, um in der Schlacht um das Fernsehen ihre belagerte Burg zu besichtigen.

Wer die langen Flure entlanggeht, vernimmt eine rätselhafte Stille. Wo sonst der Redaktionsbetrieb brummte, sind nur noch wenige Zimmer besetzt. Der „Newsroom“, wie das Herz der Redaktion heißt, ist verwaist. Hinter der Glastür: Drehstühle, Bildschirme, modernste Technik. Im kleinen Konferenzraum im dritten Stock ist mehr Betrieb. Auf dem langen Tisch stehen Gebäck und Getränke. Dazu Plakate, auf denen Kaczyński, bis vor Kurzem der mächtigste Mann Polens, jetzt Oppositionsführer, für den 11. Januar zum „Protest der freien Polen“ aufruft, zu einer Kundgebung vor dem Parlament in Warschau. Der Saal ist zugleich eine Art Aufenthaltsraum für Oppositionspolitiker, die jetzt „Widerstand“ leisten gegen die Pläne der neuen Regierung. In einer Ecke sitzt Michał Dworczyk, vor Kurzem noch Minister, und tippt etwas in sein Tablet. Auch nachts harren einige PiS-Abgeordnete und Senatoren im Gebäude aus.

polnischer fernsehkrimi: besuch bei den besatzern des polnischen senders tvp

Michał Adamczyk, der abgesetzte Fernsehchef in seinem Büro

Wenn Adamczyk nicht Fernsehchef ist, wer dann?

Drei Räume weiter dann das Chefzimmer. Hier empfängt Michał Adamczyk. Der Journalist und frühere Korrespondent in Brüssel trägt heute Jeans und Kapuzenpullover. Adamczyk war bis vor Kurzem einer der Verantwortlichen für die Fernsehnachrichten der TVP. In der Regierungszeit von Kaczyńskis PiS waren die Nachrichten immer mehr zum Propagandainstrument geworden. Nach dem Machtwechsel hat, vereinfacht gesagt, Kulturminister Bartłomiej Sienkiewicz führende Fernsehleute, darunter Adamczyk, abberufen. Fast gleichzeitig beförderte ein von der PiS-Regierung geschaffenes Gremium, der Nationale Medienrat, ihn zum Chef der gesamten TVP-Senderfamilie. Darum geht der Streit im Fall Adamczyk: Ist er jetzt Chef des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Polen? Oder ist er nur einer von fast 3000 festen und Tausenden freien Mitarbeitern von TVP? Und wenn nicht er, wer ist dann der Fernsehchef?

Die neue Führung hat im Dezember zunächst den Fernsehjournalisten Tomasz Sygut zum Chef bestimmt, um dann, wenige Tage später, ihre Pläne zu ändern und das gesamte Fernsehen in den Zustand der Liquidation zu überführen. Der Liquidator solle dem Sender „ermöglichen, weiterzuarbeiten, eine nötige Restrukturierung durchzuführen und Entlassungen von Mitarbeitern mangels finanzieller Mittel zu verhindern“, schrieb der Kulturminister auf X, vormals Twitter. Zugleich hielt er sich ein Hintertürchen offen: „Der Zustand der Liquidation kann zu einem beliebigen Zeitpunkt zurückgenommen werden.“ Das wirkt nicht gerade wie eine klare Linie.

Adamczyk wirkt übernächtigt, wie manche seiner Kollegen im Gebäude, aber zugleich kämpferisch. „Mein Mailkonto ist gesperrt, die Sekretärinnen kommen nicht zur Arbeit, aber ich arbeite weiter.“ Er sei durch den Nationalen Medienrat gewählt, und nur dieser könne ihn entlassen. Adamczyk schildert die Schlacht um das Fernsehen seit dem Regierungswechsel, erinnert daran, dass seine Gegenspieler, die „Usurpatoren“ im Hauptgebäude der TVP an der Woronicza-Straße, einfach den Betrieb mehrerer Programme ohne Ankündigung gestoppt und „den Stecker gezogen“ hätten. „Die entscheidenden Knöpfe für den Sendebetrieb sind in der Woronicza-Straße.“ Daher könne er hier technisch nicht einfach Sendungen ausstrahlen. „Wir könnten hier weiter die Abendnachrichten machen, aber sie lassen uns nicht und bauen dort eine neue Redaktion.“ Zugleich hätten die neuen Herren der TVP alle online archivierten Nachrichtensendungen, viele Dokumentarfilme und weiteres einfach gelöscht. So etwas habe es nach 1989 noch nach keinem Regierungswechsel gegeben.

Die neue Regierung mit Tusk und Kulturminister Sienkiewicz hat die Schlacht um die TVP zwar früh und mit einem Überraschungsangriff begonnen. Aber der Kampf könnte, anders als erhofft, lange dauern. Könnte er mit einem Kompromiss enden? Würde Adamczyk, derzeit noch Herr über die Festung am Platz der Aufständischen, wieder einen hohen Posten übernehmen, wie er ihn bis 2023 innehatte? Die Frage verblüfft ihn. „Wenn ich unabhängig agieren könnte, wie bisher, denke ich, so könnte ich das im Einverständnis mit meinen Stellvertretern entscheiden. Aber ich glaube nicht, dass diese neue Mannschaft, die das Recht verletzt, auch nur auf diese Idee käme.“ In Polen ist offenbar nicht die Zeit für Kompromisse.

Noch so eine Frage: Kann man in einem gespaltenen Land ein öffentliches Fernsehen aufbauen, das von fast allen als glaubwürdig akzeptiert würde, indem man Moderatoren radikal unterschiedlicher politischer Ausrichtung jeweils eigene Sendeplätze gibt? Das hatte ein Publizist in der Zeitung „Rzeczpospolita“ gefordert. Würde das helfen? Adamczyk zögert, denkt nach. Dann die Antwort: „Pluralismus ist auf dem Medienmarkt etwas sehr Wünschenswertes.“ Vor allem aber solle sich die Regierung ans Gesetz halten und nicht durch eine „feindliche, ich würde sogar sagen, banditische Übernahme“ unter Polizeischutz Gebäude besetzen. Für Adamczyk sind die anderen, in der Hauptburg an der Woronicza-Straße, „Besatzer“, nicht die PiS-Politiker in seinem Gebäude.

Auf einmal sorgt sich die PiS um den Pluralismus

Allerdings war es die PiS, die in den vergangenen Jahren dafür gesorgt hat, dass die TVP, laut Gesetz „Pluralismus, Unparteilichkeit, Ausgewogenheit und Unabhängigkeit“ verpflichtet, sich von diesen Kriterien weiter entfernt hat als je zuvor. Jetzt aber sehen sich die PiS und PiS-nahe Medienleute in der Defensive, und plötzlich steht der Pluralismus bei ihnen hoch im Kurs. Adamczyk sieht eine Uniformierung der Medienlandschaft heraufziehen. Denn der einflussreichste Privatsender, die in amerikanischem Besitz befindliche Senderfamilie TVN, sei klar liberal und pro Regierung. Wenn jetzt auch die TVP auf diese Linie gebracht werde, würde dies „das einzige oppositionelle Fernsehen im Land“ abwürgen. „Wenn es so kommt, werden die Zuschauer zu kontroversen Themen wie der Föderalisierung Europas oder dem Beitritt Polens zur Eurozone bald nur noch eine Meinung hören.“

Noch eine Veränderung sieht der Fernsehmacher am Horizont. „Hier im Zentrum Warschaus hat 1938 die Geschichte des polnischen Fernsehens mit einer Probesendung begonnen. Jetzt haben wir hier das öffentlich-rechtliche. Aber es könnte sein, dass dieses an den Rand gedrängt werden soll, zugunsten der privaten. In der Tschechischen Republik haben die Öffentlichen kaum noch zehn Prozent Marktanteil.“ Letzte Frage: Vielleicht ist es heute gar nicht mehr möglich, ein allgemein akzeptiertes Fernsehen zu machen? Adamczyk: „Schauen wir nach Amerika. Wer CNN sieht, der weiß doch, dass der Sender die Demokraten unterstützt und der Sender Fox die Republikaner.“

Wie wird es weitergehen in der Festung am Platz der Aufständischen? Nach einer schnellen Entscheidung sieht es nicht aus. Die von vielen erhoffte Verabschiedung eines neuen Mediengesetzes als Grundlage könnte Wochen auf sich warten lassen. Zwar ergab eine Blitzumfrage Ende Dezember, dass 53 Prozent der befragten Polen den Regierungskurs im großen Fernsehstreit unterstützen. Nur 32 Prozent der Menschen hatten Bedenken. Doch der Widerstand kommt auch von Wohlgesinnten. Die Regierung bekam erstaunlich viel Kritik von Persönlichkeiten und Organisationen, die nicht zu ihren Gegnern gehören – von der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte über den Bürgerrechtsbeauftragten bis hin zu einem führenden linken Politiker. Der in Oxford lehrende polnische Politologe Jan Zielonka warnte vor einer „Doppelherrschaft“, nicht nur im Fernsehen, was „zwangsläufig zu Chaos und einer gewaltsamen Lösung führt“. Die F.A.S. hätte zu dem Thema gern Polens Kulturminister gesprochen, doch dieser ist für polnische und internationale Medien derzeit nicht zu sprechen.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World