Wildkatzen: »Langfristig kann die heimische Wildtierart verloren gehen«

Besonders im Südwesten Deutschlands gibt es immer mehr Wildkatzen. Eine Bedrohung für die Tiere ist, neben dem Menschen, die Hauskatze.

wildkatzen: »langfristig kann die heimische wildtierart verloren gehen«

Wildkatzen: »Langfristig kann die heimische Wildtierart verloren gehen«

SPIEGEL: Frau Streif, in Deutschland werden immer öfter Wildkatzen gesehen, zuletzt stieg die Zahl besonders in Baden-Württemberg an. Wie beobachten Sie das?

Sabrina Streif: Seit Jahren bekommen wir immer mehr Nachweise aus Gebieten, wo es bisher keine Spuren von Wildkatzen gab. Wir erhalten Meldungen von Naturschützern, Förstern oder Jägern. Auch die Bevölkerung hilft uns, wenn sie uns Fotos schickt oder auf tote Tiere hinweist, deren DNA wir dann untersuchen können. So konnten wir Wildkatzen zum Beispiel von Lörrach bis Karlsruhe nachweisen – obwohl die Tiere dort mal als ausgestorben galten.

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SPIEGEL: Wildkatzen sind scheue Tiere, sie werden nur selten in freier Wildbahn von Menschen entdeckt. Wie lässt sich sagen, ob es tatsächlich mehr Tiere gibt oder ob nur das Bewusstsein gewachsen ist und Sie daher mehr Zuschriften bekommen?

Streif: Es gibt einen Monitoring-Effekt. Wenn wir öfter nach Nachweisen fragen, schicken uns die Leute auch mehr. Aber die Tendenz ist trotzdem klar. Im Schwarzwald etwa haben wir lange nach Wildkatzen gesucht, konnten aber keine Hinweise finden. Mittlerweile bekommen wir regelmäßig Material, das das Gegenteil zeigt.

SPIEGEL: Warum kann sich die Wildkatze dort nun ausbreiten?

Streif: Wie gut sich eine Population vermehren kann, hängt auch davon ab, wie viele Jungtiere überleben, um sich wiederum fortzupflanzen. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Jungsterblichkeit bei Wildkatzen insgesamt hoch ist: nur eines von vier Tieren erreicht das Erwachsenenalter. Damit die Jungen überleben, braucht es milde oder zumindest nicht ganz so kalte Winter und eher trockene Frühjahrsmonate. Ist es zu kalt und zu nass, erkranken die Tiere oder werden von Parasiten befallen, was vor allem bei Jungtieren zum Tod führen kann. Aber in den vergangenen Jahren haben die Bedingungen gepasst.

SPIEGEL: Die Winter werden durch die Erderwärmung milder, auch längere Trockenperioden sind darauf zurückzuführen. Ist die Wildkatze ein Gewinner der Klimakrise?

Streif: Ich habe sie mal so bezeichnet, inzwischen würde ich das nicht mehr machen. Mildere Winter helfen den Tieren zwar und sie profitieren auch, wenn Stürme Bäume umlegen und so Waldflächen mit viel Totholz entstehen. Darunter können sie sich gut verstecken, außerdem leben dort viele Mäuse – also Nahrung. Aber natürlich sind Wildkatzen auch von anderen Extremwetterereignissen wie Überflutungen und Hitzewellen betroffen.

SPIEGEL: Was bedroht die Tiere sonst?

Streif: Baummarder, Fuchs, Uhu – die typischen Beutegreifer – können für Jungtiere gefährlich werden. Aber der größte Feind ist der Mensch. Landwirtschaft und Siedlungsbau haben der Wildkatze um 1900 viel Lebensraum genommen, heute ist Verkehr die größte Bedrohung. Wildkatzen haben große Streifgebiete, oft erstrecken sie sich über mehrere Quadratkilometer. In Deutschland kreuzen diese Reviere fast immer Straßen. Die meisten Wildkatzen sterben, weil sie von Autos und Lkw überfahren werden.

SPIEGEL: Könnten Zäune dagegen helfen?

Streif: Die schützen eher den Menschen vor Kollisionen mit Wildschweinen oder Rehen. Ein Tier wie die Wildkatze, die klettert und gräbt, halten einfache Zäune kaum davon ab, ihn zu überqueren. Es gibt spezielle wildtiersichere Zäune – aber ein Allheilmittel sind auch die nicht. Natürlich halten sie die Tiere von der Straße weg, aber sie sind auch Barrieren und verhindern die Ausbreitung. Zäune machen also da Sinn, wo es Überquerungshilfen für Tiere gibt wie Grünbrücken oder Unterführungen.

SPIEGEL: Ein anderes Problem für Wildkatzen sind Paarungen mit Hauskatzen. Warum?

Streif: Die europäische Wildkatze ist ein heimisches Wildtier und nicht die Vorfahrin unserer heutigen Hauskatze. Verwandt sind sie, aber es sind zwei Katzenarten. Die Hauskatze haben wir als Haustier bei uns domestiziert, sie hat also auch Anpassungen beim Menschen erlebt, die sie zahm machen und dafür sorgen, dass sie etwa eine bestimmte Ernährung benötigt. Wenn sich diese Eigenschaften mit der Wildkatze vermischen, nimmt sie Anpassungen an ein häusliches Leben an.

SPIEGEL: Und diese häuslichen Anpassungen erschweren dann das Leben in der freien Wildnis.

Streif: Genau. Langfristig kann außerdem die heimische Wildtierart verloren gehen, weil es nur noch sogenannte Hybride gibt.

SPIEGEL: Ließe sich das durch flächendeckende Kastrationen verhindern?

Streif: Das wäre eine Maßnahme, die wir sofort ergreifen können und die in jedem Fall helfen würde. Leider geht der Trend gerade in die falsche Richtung, immer weniger Menschen lassen ihre Katzen kastrieren.

SPIEGEL: Wie groß ist der Anteil der Hybride aktuell?

Streif: Mancherorts kommen überhaupt keine Hybride vor, obwohl es auch viele streunende Hauskatzen gibt. Vor allem in großen Waldgebieten mit großen Wildkatzenpopulationen wie dem Pfälzer Wald, dem Hunsrück oder der Eifel. Umso überraschender: In Baden-Württemberg finden wir teilweise bis zu 50 Prozent Hybride unter den Wildkatzen. Hier ist die Art also tatsächlich gefährdet. Warum das so ist, kann die Forschung noch nicht ganz beantworten.

SPIEGEL: Gibt es zumindest Erklärungsansätze für die regionalen Unterschiede?

Streif: Die Wildkatzen verbreitet sich im Südwesten von den Vogesen aus. Dazu müssen die Tiere die Oberrheinebene queren – eine Landschaft mit vielen Siedlungen und Landwirtschaft, vielen offenen Flächen und wenig Wald. Weil es keinen geeigneten Lebensraum gibt, gibt es kaum Wildkatzen, mit denen eine Paarung möglich wäre. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Wildkatze auf eine Hauskatze trifft, ist aber erhöht.

SPIEGEL: Viele Halter wissen nicht, mit wem sich ihre Katze gepaart hat. Wie können Halter erkennen, dass sie Junge von einer Wildkatze hat?

Streif: Hybride Tiere sind aggressiv, ähnlich wie die Wildkatzen. Derlei Jungtiere haben auch schon Wohnungen verwüstet, bis ihre Besitzer gemerkt haben, dass sie keine normale Hauskatze haben. Hinweise gibt auch der Wurf: Bei Hauskatzen können Geschwister weiß, schwarz und gefleckt sein, helle oder dunkle Nasen haben. Junge Wildkatzen sehen alle gleich aus, sie haben braun-gräulich getigertes Fell und helle Nasen. Trotzdem ist es schwer, das zu erkennen. Wer den Verdacht hat, sollte daher eine genetische Analyse machen lassen.

SPIEGEL: Es gibt noch ein anderes Wildtier, das sich aktuell wieder in Deutschland ausbreitet: der Wolf. Immer wieder wird gestritten, ob man ihn zum Abschuss freigeben sollte. Wird es ähnliche Debatten über die Wildkatze geben?

Streif: Die Wildkatze ist ein positiv belegtes Tier, sie frisst keine Rehe und reißt keine Schafe. Außerdem sieht sie hübsch aus, das macht sie beliebt bei den Menschen. Kurz: Es gibt wenig, was gegen die Ausbreitung spricht.

SPIEGEL: Sind Sie optimistisch, dass die Wildkatze sich trotz der Bedrohung durch Hauskatze und Verkehr weiter ausbreitet?

Streif: In weiten Teilen Deutschland ist die Wildkatze mittlerweile gut angekommen, in Baden-Württemberg lässt sich aktuell die Ausbreitung schön nachvollziehen. Vor 20 Jahren gab es noch keine Tiere, jetzt werden sie regelmäßig gesehen. Also ja, ich bin optimistisch. Noch besser wäre es aber, wenn wir als Gesellschaft die Verbreitung aktiv unterstützen würden: mit durchgängigen Waldflächen, Überquerungshilfen an Straßen und kastrierten Hauskatzen.

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