Kleider, Frisuren und Sitten: Ein Bergdorf dreht die Zeit zurück

Seit 14 Jahren feiern Belle-Époque-Fans aus der ganzen Schweiz in Kandersteg das Altmodische. Von der Sparkasse-Angestellten bis zum Verkäufer im Dorflädeli: Alle machen mit.

kleider, frisuren und sitten: ein bergdorf dreht die zeit zurück

Programmpunkt Donnerstagnachmittag: Pyjamaparty in der Huetnadle-Stallbeiz. Vorher noch ein modernes Handyfoto.

Tatsächlich Nylonstrümpfe. Die Dame, die selbstbewusst die Dorfstrasse von Kandersteg hinunterstolziert, trägt unter ihrem Rock und Unterrock modernes synthetisches Material. Adrian Erni hat es sofort gesehen.

«Aha», sagte er zum modischen Fauxpas vieldeutig.

Der Vorstandspräsident, verantwortlich für das alljährliche Treffen der Belle-Époque-Fans, kennt die Dame im weiss-blauen historischen Gewand gut. Sie ist in der Szene berüchtigt für ihre Detailversessenheit, ihren scheinbar grenzenlosen Kostümfundus. Ein Vorbild. Und eben auch ein Stressfaktor.

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Vorstandspräsident Adrian Erni im stilechten Dreiteiler im über 100-jährigen Saal des Hotels Victoria – ebenfalls stilecht.

Denn ihr Anspruch, die Belle Époque vom Halsband bis zu den Schuhen perfekt wiederzugeben, bringt andere in Zugzwang. Dass nun eine wie sie angesichts der tiefen Temperaturen auch mal pragmatisch ist, erleichtert Erni.

«Es soll ja nicht zum Wettrüsten werden», sagt Adrian Erni. Lieber gute Stimmung, Zusammengehörigkeitsgefühl. Schön alt eben.

Die Nostalgiker als Januargeschenk

Seit 14 Jahren bringt die «Belle-Époque-Woche» Hunderte Fans nach Kandersteg. Für viele ist es der wichtigste Anlass im Jahr. Sogar aus dem nahen Ausland kommen sie.

Für Kandersteg, vor allem bekannt als Verladestation für den Lötschberg, sind die Nostalgiker ein Geschenk. Eingezwängt zwischen weltberühmten Stationen wie Adelboden oder Wengen, kämpft die Langlaufdestination um Aufmerksamkeit – und Gäste. Beim Tourismusbüro sagen sie darum: «Der Anlass ist sehr wichtig für Kandersteg.»

Er bringt nicht nur gut zahlende Gäste, sondern füllt auch das Januarloch. Während andere Wintersportstationen in dieser Periode zwischen Neujahr und Sportferien Partys und Foodevents veranstalten, setzen sie in Kandersteg auf die Vergangenheit. Das passe perfekt, finden sie hier.

Auch wenn nicht alle mit der gleichen Begeisterung in ihren Ladenlokalen ihre alte Tracht tragen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz in diesen Tagen: Alle machen mit. Die Bankmitarbeiterin. Der Verkäufer im Lebensmittelladen. Die Mitarbeiter im BLS-Shop in der Bahnhofshalle.

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Alle machen mit – auch die Angestellten der Sparkasse.

Die Belle Époque erinnert das Kandersteger Volk an glanzvolle Zeiten. Um 1900 herum standen in Kandersteg 20 Hotels. Der Ort durfte sich mit mondänen Tourismushochburgen wie St. Moritz, Gstaad oder Montreux vergleichen.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Das Dorf ist schmuck, aber als mondän würde heute Kandersteg niemand mehr bezeichnen. Eher noch als Talentschmiede für Exekutivpolitiker.

Glanz von früher

Zwei Bundesräte hat das Dorf mit nur 1300 Einwohnern hervorgebracht. Adolf Ogi und Albert Rösti. Andere Schlagzeilen dominierten in letzter Zeit: Ein Bergsturz droht oben am Spitzen Stein, im benachbarten Mitholz zwingt ein Munitionslager Menschen zur Umsiedlung, und dann bröckelte jüngst auch noch der Lötschbergtunnel.

Ein bisschen Glanz von früher tut dem Kandersteg der Gegenwart gut. Eine Frau im beigen Chiffonkleid, Stammgast seit der ersten Ausgabe, sagt es so: «Wir wollen für ein paar Tage den Mantel des Gegenwartsstresses ablegen.»

Die pensionierte Historikerin schwärmt von den Umgangsformen: angedeutete Handküsse; Männer, die aufstehen, wenn sie den Tisch verlässt.  «Altmodisch, ich weiss, aber eben auch höflich.» Dann muss sie weiter. Sie will zum Ballsaal des Hotels Victoria, dort wird ab 14 Uhr getanzt, Englischer und Wiener Walzer.

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Schritt für Schritt in die Vergangenheit zurück. Wiener-Walzer-Kurs im Ballsaal des Victoria.

Das Haus, von Gastro-Suisse-Präsident Casimir Platzer geführt, stammt aus dem Jahr 1895 und ist eines der Fixpunkte im Festivalprogramm.

Das grosse Galadiner, Höhepunkt der Woche, findet im Saal des Hotels statt, themengerechte Schmuckstücke und Accessoires werden den ganzen Tag über in der Lobby verkauft – und Coiffeuse Pamela formt im Nebenzimmer stundenlang Frisuren aus der Zeit.

Mehr Belle Époque geht nicht.

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Dresscode für diese Party? Zu diesen Anlässen kommt man besser entsprechend gekleidet.

Adrian Erni trägt einen braunen Dreiteiler, stets dabei hat er eine Melone, Gehstock ebenso. Er passt perfekt in die Lobby des Victoria. Er nippt an einem Rivella Rot. So viel Moderne darf dann schon sein.

Aber sonst versuchen sie hier im Kandersteg des Jahres 2024 strikt in der Epoche zu bleiben. Handys sind verpönt. «Ja, ja, tausend Regeln, gell», sagt er und verwirft die Arme.

Epoche mit Schattenseiten

Erni ist sich bewusst, dass sein Hobby auf Aussenstehende seltsam wirkt, aus der Zeit gefallen. Dazu die gestelzte Ernsthaftigkeit, die eine Zeit idealisiert, die durchaus ihre Schattenseite hatte. Der Finanzunternehmer ist nicht naiv; er weiss, dass die Belle Époque mit der Industrialisierung, der Ungleichheit auch zwischen Mann und Frau aus heutiger Sicht auch viel Diffiziles hatte.

Doch es waren eben auch drei Jahrzehnte bis zum Ersten Weltkrieg, die für Aufbruch standen, für Innovation. Elektrifizierte Gebäude, Heizung, fliessendes Wasser, dazu Dampfmaschinen, die das Reisen komfortabler und schneller machten. «Eine geniale Zeit!», sagt Erni.

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Von Kopf bis Fuss: Im Fundus des Festivals lässt sich alles mieten.

Das sagt nicht nur der Fan. Das sagt zum Beispiel auch Roland Flückiger, Architekturhistoriker und einer der besten Kenner der Belle Époque.

«Gerade in der Schweiz blühte damals der Tourismus dank den Engländern auf», sagt der Doktor der ETH. Vieles, was die Schweiz heute stolz vermarkten würde, sei damals entstanden.

Flückiger war einmal am Festival in Kandersteg. Der frühere Berner Denkmalpfleger teilt die Begeisterung für die friedvolle Zeit zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg.

Respekt vor der Vergangenheit

Vor allem stehe das Treffen in Kandersteg für eine neue Sichtweise auf diese Epoche. «Eine respektvollere.» Denn lange galten Bauten aus der Belle Époque als «alter Plunder». 1952 wurde auf Rigi Kulm noch ein ganzer Hotelkomplex aus der Belle Époque abgerissen. Flachdach, Bandfenster und Beton dominierten bis tief in die 1980er-Jahre.

Roland Flückiger wollte dies mit gleichgesinnten Denkmalpflegern ändern. Auslöser war ein Projekt im historischen Hotel Palace in Luzern. In den zwei Ballsälen sollte, so der Plan, ein Detailhändler einziehen.

Verkaufsschlager Belle Époque

Die Denkmalpfleger organisierten 1995 mit Unterstützung von Hotelleriesuisse und dem Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein eine Tagung zum Thema «Historische Hotels erhalten und betreiben». Daraus entstanden dann die Swiss Historic Hotels. «Aber zu Beginn fanden wir kaum zehn Mitglieder für unsere Idee.»

Heute hat der Verband über 60 Mitglieder. Und jedes Jahr wollen weitere Hotels aufgenommen werden. Belle Époque – es verkauft sich.

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Der Stoff, das Kleid, die Frisur. Alles muss stimmen.

Während Roland Flückiger sich von der kleinteiligen, verspielten Architektur hat begeistern lassen, ist es bei Adrian Erni das Soziale. Und der Kontrast zur Gegenwart. «Gerade in der heutigen Zeit», sagt er, «wo es kaum mehr Regeln gibt und nichts mehr vorgegeben ist, alles verkopft und kompliziert… in diesem Kontext ist diese geordnete Welt für uns geradezu erholsam.»

Doch schulmeisterlich wolle man nicht sein, sagt der Präsident. Aber manchmal, wenn in diesen Tagen Hunderte Gleichgesinnte in unterschiedlichen Kostümen durch Kandersteg flanieren, kann er sich nur schwer zurückhalten. «Ou», sagt er, «natürlich ganz heikel, wenn ich jemanden korrigieren muss.»

Aber manches gehe nun einfach wirklich nicht. Wenn Männer ihre Kopfbedeckung in Innenräumen aufbehalten, zum Beispiel. Ihr Veston in Gegenwart von Frauen ablegen. Oder sogar den Farbkodex der Belle Époque nicht einhalten.

Kein Braun nach sechs

«No brown after six.» Kein Braun nach sechs Uhr. «Am Abend trägt Mann Schwarz – alles andere: eine Katastrophe!» Erni wirkt in diesem Moment ehrlich empört.

Und die Regeln bei den Frauen? Adrian Erni hält kurz inne und seufzt. Die Genderdebatte, ein Problem der Gegenwart. Vorsichtig sagt er: «Frauen haben immer einen Hut auf, keine hängenden Haare und keine entblösste Haut – eigentlich.»

Natürlich weiss er, dass sich das so nicht mehr komplett durchsetzen lässt. Warum auch.

Es ist ein Spiel. Aber durchaus ernst gemeint.

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