Bonnie und Clyde im Aargau: Das blutige Ende einer Liebesgeschichte

Ein 19-jähriger US-Soldat und seine 15-jährige, schwangere Freundin sorgten im Juni 1971 in Brugg AG für Angst und Schrecken und landesweit für Schlagzeilen. Die Geschichte einer Flucht, die aus dem Ruder lief – und in einer tödlichen Tragödie endete.

bonnie und clyde im aargau: das blutige ende einer liebesgeschichte

Das blutige Ende einer Liebesgeschichte

«Bei Anbruch der Tageshelle zeigte sich Brugg verschlafen und verträumt wie eh und je. Nichts hätte auf den furchtbaren Mord am Vorabend, auf die nächtliche Mörderjagd und die gespenstische Szenerie einer ‹Mordnacht von Brugg› schliessen lassen, welche die Öffentlichkeit so sehr erschütterte wie kein anderes lokales Vorkommnis seit Jahren.» Das «Badener Tagblatt» berichtete am Samstag, 5. Juni 1971 in einer zweiseitigen, bebilderten Sonderausgabe über das, was geschehen war.

Die Tragödie bahnte sich am Freitagabend gegen 22 Uhr an. Die Stadtpolizei führte in der Eisenbahnunterführung zwischen Windisch und Brugg eine Lärmkontrolle durch, als ein Motorradlenker und seine Mitfahrerin die errichtete Sperre durchbrachen. Der Fahrer bremste zunächst ab, gab dann aber Vollgas und bog bei nächster Gelegenheit nach rechts ab in Richtung Friedhof. Die Polizei nahm die Verfolgung auf und stellte sich dem Motorrad in den Weg, als der Fahrer aus einer Quartierstrasse wieder in die Hauptstrasse einbiegen wollte. Er wich über das Trottoir aus und steuerte in Richtung Altstadt, verfolgt von einem Polizeiauto mit Blaulicht. Auf der anderen Seite der alten Aarebrücke konnten die Beamten die Honda 250 schliesslich stoppen. Der Fahrer liess sich widerstandslos festnehmen, die Beifahrerin bewarf die Polizisten mit einer leeren Coca-Cola-Flasche und versuchte erfolglos, zu Fuss zu entkommen.

Ein Küchenmesser als Waffe

Auf dem Posten der Stadtpolizei sollten die Personalien des jugendlichen Paars aufgenommen werden. Kaum dort angekommen, bedrohte die junge Frau den Polizisten Werner Schrenk mit einem 30 bis 40 Zentimeter langen Küchenmesser. Der Beamte zog sich ins Nebenzimmer zurück, wo er seinen Revolver entsicherte. Diesen Augenblick nutzte das Paar, um aus dem Fenster zu springen und in die Schulthess-Allee zu flüchten. Dort sollte es zu einer verhängnisvollen Begegnung kommen.

Ernst Bingisser war auf dem Heimweg von einer Feuerwehrübung mit anschliessendem Schlummertrunk, als er auf die Ausreisser aufmerksam wurde. Er versuchte, die beiden zu stoppen, und erwischte die junge Frau. Ihr Begleiter kam ihr zu Hilfe, schlug zuerst mit der Faust zu und stach dann mit dem Küchenmesser mehrmals auf den uniformierten Feuerwehrmann ein, bis dieser zu Boden sank. Dann ging er mit dem Messer auf den herbeigeeilten Stadtpolizisten André Bölsterli los. Dieser schoss dem Angreifer mit seiner Dienstpistole ins Bein, und das Paar verschwand in der Dunkelheit. Feuerwehrmann Bingisser starb kurz nach der Einlieferung ins Bezirksspital, der schwer verletzte Stadtpolizist Bölsterli überlebte nach einer dreistündigen Operation.

Nächtliche Verbrecherjagd

Die Nachricht von der Bluttat verbreitete sich rasch. Die Kantonspolizei löste einen Grossalarm aus und bot Beamte aus dem ganzen Aargau zur Verbrecherjagd auf. Das Radio warnte die Bevölkerung in der Sendung «Nachtexpress» im Viertelstundentakt, das Fernsehen gab bei «Aktenzeichen XY» das Signalement der Flüchtigen durch. Zahlreiche Brugger begaben sich auf die Strasse. Eine Mischung aus Empörung, Sensationslust, Trauer und Wut über die Tat machte sich breit. Nicht wenige beteiligten sich an der Suche nach dem Täter und seiner Komplizin. Die Feuerwehr unterstützte die Polizei bei der Fahndung, die Strassen wurden weiträumig abgeriegelt.

Kurz nach Mitternacht wurden die Flüchtigen in einer Gasse unweit der Aarebrücke gesehen. Um 1.45 Uhr fielen dann zwei Schüsse: Ein Polizist zeigte an, dass er das Paar gefunden hatte. Er hatte mit seinem Hund am Fluss gesucht, als der Vierbeiner zu knurren begann. Im Gebüsch am Ufer entdeckte er die Gesuchten. Die Tatwaffe hatten sie ins Wasser geworfen. Die Schaulustigen staunten, als die Verhafteten wenig später zum Bezirksgebäude geführt wurden – er mit nacktem Oberkörper und einem umgehängten Kreuz auf der Brust. «Einem so schmächtigen Bürschchen und dem harmlos wirkenden Mädchen hätte man eine solche Tat nicht zugetraut», schrieb das «Badener Tagblatt».

Ein Liebespaar auf der Flucht

Mit der Verhaftung endete eine Flucht, die ans Gangsterpaar Bonnie und Clyde erinnerte. Der 19-jährige Tom K.* und die 15-jährige Barbara T.* waren Anfang Mai 1971 aus Mannheim (D) ausgerissen. Der Amerikaner K. hatte dort in der US-Armee gedient. T. war die uneheliche Tochter eines G.I. und einer Deutschen, die später einen amerikanischen Unteroffizier geheiratet hatte. Die Beziehung zu Adoptivvater und Mutter wurde schwierig, als Barbara ein Verhältnis mit Tom K. einging – und schwanger wurde. Mit der Flucht wollte das Liebespaar eine drohende Trennung und eine mögliche Einweisung von Barbara T. in eine Erziehungsanstalt verhindern.

Die Ausreisser machten sich mit gestohlenen Fahrrädern, Schlafsäcken und rund 40 Franken rheinaufwärts auf. Bei Basel überquerten sie die Grenze und verbrachten einige Tage in der Nähe der Stadt. Ende Mai schlugen sie ihr Lager im Wald zwischen Oetwil an der Limmat ZH und Würenlos AG auf. Im ein Jahr zuvor eröffneten Shoppingcenter in Spreitenbach AG hatten sie Zelt, Campingausrüstung und Esswaren gestohlen. Auch zwei Mofas hatten sie geklaut. Nach einem Hinweis aus der Bevölkerung rückte am 2. Juni eine Patrouille der Kantonspolizei Dietikon ZH aus und nahm Tom K. und Barbara T. fest. Das Paar wurde für weitere Abklärungen der Bezirksanwaltschaft Zürich übergeben. Die Eltern von Barbara reisten an, um ihre Tochter – inzwischen im sechsten Monat schwanger – abzuholen. Als K. und T. am Freitagmorgen allein gelassen wurden, um sich voneinander zu verabschieden, gelang ihnen die Flucht. Sie entwendeten ein Motorrad und liessen unterwegs ein Küchenmesser mitlaufen, um sich im Notfall verteidigen zu können. So machten sie sich auf in Richtung Basel – offenbar in der Absicht, so rasch wie möglich nach Mannheim zurückzukehren. Bis sie in Brugg in die Lärmkontrolle gerieten.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

In der Bevölkerung war die Betroffenheit gross. Dies wegen der Dramatik der Ereignisse, aber auch weil das Opfer ein Mitbürger war, den in Brugg viele gekannt hatten. Der 44-jährige Ernst Bingisser war Vater von drei Kindern und langjähriger Chauffeur beim Stadtbauamt. Mehr als sein halbes Leben lang hatte er in der Feuerwehr gedient, war Kassier im Verein für Pilzkunde. Wenige Jahre zuvor war bereits sein Bruder auf tragische Weise gestorben – bei einem Arbeitsunfall mit Starkstrom am Güterbahnhof. Die Trauerfeier für Bingisser fand unter gewaltiger Anteilnahme der Bevölkerung statt, und Stadtammann Eugen Rohr rang in seiner einfühlsamen Rede um eine Erklärung für den sinnlosen Tod eines Mannes, der zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war.

Bei aller Brutalität der Tat und bei allem Mitgefühl für das Opfer und seine Angehörigen zeigte sich rasch, dass Tom K. nicht der kaltblütige Killer war, als der er zunächst erschienen war. «Unterlässt man es nicht, die Lebensgeschichte der beiden Jugendlichen zu verfolgen, müssen die Ereignisse in Brugg mehr als tragisch denn als nur kriminell und verabscheuungswürdig eingestuft werden», stellte das «Brugger Tagblatt» fest. «Es muss – an uns alle – die Frage gestellt werden, wer die Schuld daran trägt, dass ein 19-jähriger Jüngling nun plötzlich als Mörder dasteht und dass ein Mädchen im Bezirksschulalter mit in ein Geschehen gerissen ist, das zu den grauenvollsten gehört, die man sich vorstellen kann.» Für die Dienstkameraden von Tom K. stand fest, dass die Gesellschaft ihn zum Mörder gemacht hatte. In einem Beitrag in der G.I.-Untergrundpresse nahmen sie ihn in Schutz.

Eine unglückliche Lebensgeschichte

Der Prozess im August 1974 sollte K.s Lebensgeschichte weiter erhellen. Geboren in Portland im US-Bundesstaat Oregon, war er mit einem gelähmten Bruder bei seiner Mutter aufgewachsen. Sie erzog ihren Sohn, wie der Gutachter der Psychiatrischen Klinik Königsfelden feststellte, «vor allem mit dem Ledergurt». Die einzige Person, die ihm in seiner Jugend Liebe bot, war seine Grossmutter. Daneben verband ihn eine enge Beziehung mit seinem Bruder. In der Schule in Texas galt Tom als dumm, was der Gutachter als Irrtum bezeichnete. Seine schwachen schulischen Leistungen wurden zwar bereits in seiner Kindheit auf eine Legasthenie zurückgeführt. Seine Lehrer boten ihm jedoch keine Hilfe, sondern liessen ihn mehrere Klassen repetieren. Schliesslich schickten sie ihn in ein Erziehungsheim, bis er nach zwei Jahren in die Volksschule zurückkehrte. Nach der 6. Klasse wurde der 15-Jährige aus der Schule entlassen.

K. suchte sich Stellen als Hilfsarbeiter. Über einen Arbeitskollegen geriet er in die Rockergruppe Texas Angels. Mit 17 meldete er sich bei der US-Armee, wo er zu seiner Enttäuschung der Sanität zugeteilt wurde. Bald heiratete er eine drei Jahre ältere Sanitätshelferin, die über eine deutlich bessere Schulbildung verfügte. Er meldete sich freiwillig für einen Einsatz bei den in Deutschland stationierten Truppen und wollte seine Frau mitnehmen, was von Armeeseite abgelehnt wurde. 1970 wurde K. in eine Infanteriedivision nach Mannheim versetzt, wo er vor allem für den Unterhalt eines Schützenpanzers verantwortlich war.

In Deutschland traf K. auf eine Truppe, die sich in einem beklagenswerten Zustand befand. Es herrschten Langeweile und ein schlechtes Klima, Rassenkonflikte mit Prügeleien zwischen Schwarzen und Weissen waren an der Tagesordnung, der Vietnamkrieg provozierte Widerstand in den eigenen Reihen, Drogen waren weit verbreitet. Bald konsumierte K. beträchtliche Mengen an Haschisch sowie LSD. Die daraus entstehende Müdigkeit bekämpfte er mit Amphetaminen. Seine Frau schrieb ihm, sie wolle sich scheiden lassen.

Erneute Flucht und mildernde Umstände

Im August 1971 verurteilte das Jugendgericht Brugg Barbara T. als Mittäterin im Mordfall und für weitere Delikte. Sie erhielt die schwerstmögliche Strafe für minderjährige Jugendliche: Einweisung in eine Erziehungsanstalt für mindestens drei und höchstens zehn Jahre. Für das Gericht stand fest, dass sie einen massgeblichen Einfluss auf Tom K. ausgeübt hatte. Mangels geeigneter Einrichtungen in der Schweiz wurde Barbara T. ins Frauengefängnis in Hindelbank BE eingewiesen, wo sie einen Sohn zur Welt brachte. Nach ihrer Entlassung verliert sich ihre Spur: 1974 soll sie laut damaligen Presseberichten mit ihren Eltern in den USA gelebt haben.

Tom K. setzte sich im Dezember 1972 wenige Tage vor dem geplanten Prozess mit einem Mithäftling aus der Untersuchungshaft in Lenzburg AG ab und flüchtete nach Italien. Nach der Festnahme wurde er in Civitavecchia in einem Schnellverfahren, das in der Schweiz als fragwürdig bis skandalös angesehen wurde, zu einer Haftstrafe von sieben Jahren und acht Monaten verurteilt – wegen Vergehen, die er in Italien begangen hatte. 1974 brachte man ihn für den Prozess in die Schweiz. Das Geschworenengericht sprach ihn unter anderem der vollendeten und versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig. Was im Volksmund als Mord galt, war also streng juristisch keiner.

Das Gericht anerkannte eine verminderte Zurechnungsfähigkeit sowie mildernde Umstände wie schlechtes Milieu im Elternhaus oder bei der US-Armee in Mannheim. Es strich zudem wie das Jugendgericht die Rolle von Barbara T. als treibende Kraft heraus. K. hatte im Prozess ausgesagt, er habe Ernst Bingisser in einem sogenannten Flashback getötet, einer durch den früheren Drogenkonsum hervorgerufenen Sinnestäuschung. Das Strafmass wurde auf acht Jahre Zuchthaus festgesetzt. Dabei wurde die in Italien verhängte Strafe mitberücksichtigt, auch wenn die Schweizer Justiz keinen Einfluss darauf hatte, wie diese vollzogen werden sollte.

Von 1979 bis 1983 büsste K. in der Strafanstalt Lenzburg für seine Tat. Nach seiner vorzeitigen Entlassung gründete er eine Familie und lebte bis zu seinem Tod in der Schweiz.

* Namen geändert

Dieser Text ist in einer längeren Version zuerst in der Publikation «Brugger Neujahrsblätter 2024» erschienen.

News Related

OTHER NEWS

Live-Panne bei „The Masked Singer“: Kandidat versehentlich enttarnt

Der Kiwi ist ein Teilnehmer von „The Masked Singer“ – doch bei seiner Performance am 26. November 2023 ging etwas schief. Die Maske verrutschte und der Promi darunter wurde enttarnt. ... Read more »

Fünf Tote nach Unwetter in Region Odessa - Die Nacht im Überblick

Infolge eines schweren Unwetters sind in der südukrainischen Region Odessa mindestens fünf Menschen ums Leben gekommen. Weitere 19 Anwohner seien durch den Sturm verletzt worden, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr ... Read more »

Die Verkäuferin, die den Dieb in die Flucht trieb

Ein Räuber versuchte sein Glück in einer Bäckerei, nicht ahnend, dass er leer ausgehen würde. Die Verkäuferin trieb den Täter nämlich mit einem lauten Schrei in die Flucht. Nun hat die ... Read more »

In Beaver Creek begann die «Odi-Mania»: Odermatt hat sogar King Roger den Rang abgelaufen

Vier Jahre nach seinem ersten grossen Triumph in Beaver Creek hat Marco Odermatt als Skirennfahrer alles gewonnen. Und gemäss einer Studie hat der Buochser im letzten Frühling sogar «King» Roger ... Read more »

Die Katze von Taylor Swift ist das drittreichste Haustier der Welt mit einem Vermögen von 474 Millionen R$.

Veröffentlichung Olivia Benson, die Katze von Taylor Swift, hat nicht nur das Herz der Sängerin erobert, sondern zeichnet sich auch als eines der reichsten Haustiere der Welt aus, mit einem ... Read more »

Kurz zuvor sagte er noch «Ja, ich will»: Bräutigam erschiesst an Hochzeit Braut und drei Gäste

Bei einer Hochzeit in Thailand werden die Braut und drei Gäste erschossen. Der Täter: Bräutigam Chatorung S. Er richtete sich nach dem Blutbad selbst. Bräutigam erschiesst an Hochzeit Braut und ... Read more »

Bundesratswahl am 13. Dezember: FDP fürchtet Geheimplan gegen Cassis

Die FDP befürchtet bei den Bundesratswahlen ein politisches Manöver gegen ihren Magistraten Ignazio Cassis. Dabei würde der Partei ein Bundesratssitz weggenommen und dafür der Kanzlerposten zugeschanzt. FDP fürchtet Geheimplan gegen ... Read more »
Top List in the World