Depression am Nil: «Wenn du im Leben etwas erreichen willst, ist Ägypten derzeit definitiv der falsche Ort»

«So traurig war der Ramadan noch nie», sagt Ola, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Die 41-jährige Verwaltungsangestellte sitzt in ihrer Wohnung in einem Vorort von Kairo. Normalerweise lädt sie während des Fastenmonats abends Freunde ein und bekocht sie. Doch in diesem Jahr muss sie darauf verzichten. «Die Preise für Lebensmittel sind dermassen gestiegen, dass ich sparen muss», sagt sie. Stattdessen bringe jetzt jeder Besucher sein eigenes Essen mit.

Draussen geht derweil die Sonne unter. In Kairo, wo während des Ramadan tagsüber träge Stille herrscht, explodiert bei Anbruch der Nacht normalerweise das Leben. Überall auf den Strassen werden dann grosse Tische aufgestellt, wo sich Anwohner, aber auch Fremde zum gemeinsamen Fastenbrechen treffen. Diesmal fehlen sie jedoch vielerorts. «Die meisten Leute können es sich nicht mehr leisten, Geld oder Essen dafür zu spenden», sagt Ola.

Leere Kassen und hohe Schulden

Schuld ist die schwere Wirtschaftskrise, die Ägypten heimsucht. Seit Jahren taumelt das Riesenland am Nil auf einen Abgrund zu. Die Staatskassen sind beinahe leer, die Schulden astronomisch, es fehlt an Devisen, und wegen der galoppierenden Inflation können sich viele der 110 Millionen Einwohner nicht einmal mehr Grundnahrungsmittel leisten. Zeitweise war es in Kairo sogar beinahe unmöglich, Zucker zu finden.

«Das ist die wohl schwerste Krise, die Ägypten je durchgemacht hat», sagt der Ökonom und Journalist Mohammed Ghad in einem Café im Zentrum der Hauptstadt Kairo. Sie trifft aber längst nicht mehr nur die Armen, sondern auch Leute aus der Mittelschicht – wie Ola, die ebenfalls einen grossen Teil ihres Ersparten verloren hat.

Im März war die Lage so dramatisch, dass sich die Regierung gezwungen sah, den Wechselkurs freizugeben. Davor hatte sie verzweifelt versucht, das ägyptische Pfund künstlich stabil zu halten. Die Folge dieser Entscheidung war jedoch ein weiterer Inflationsschub. «Im Büro gerieten an diesem Tag alle in Panik», sagt Ola. «Viele meiner Kollegen hatten Angst, dass nun auch noch ihre letzten Reserven vernichtet würden.»

Milliarden für eine neue Hauptstadt

Ägyptens Absturz hatte sich lange angekündigt. Seit Jahren warnen Experten davor, dass das Land unter seiner Schuldenlast zusammenbrechen könnte. Doch lange Zeit konnten sich die Machthaber in Kairo darauf verlassen, dass immer wieder neues Geld in Form von Krediten ins Land fliessen würde. Inzwischen stehen sie beim IMF, dem Internationalen Währungsfonds, mit über 11 Milliarden Dollar in der Kreide.

«Die Kredite wurden damals vergeben, ohne dass wirklich auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Wert gelegt wurde», sagt Ghad. Stattdessen steckte der seit 2013 mit eiserner Faust regierende Präsident Abdelfatah al-Sisi sein Geld in pompöse Prestigeprojekte, wie etwa die neue Hauptstadt, die er für rund 58 Milliarden Dollar östlich von Kairo aus dem Wüstenboden stampfen lässt. Doch von der neuen Metropole steht bis jetzt nicht viel.

Die Fahrt dorthin geht über hochmoderne Autobahnen und am Trassee einer Hochbahn entlang, die mit 80 Kilometern Länge die längste der Welt werden soll. Fertiggestellt ist sie aber genauso wenig wie die Stadt selbst. Im zukünftigen Machtzentrum Ägyptens stehen unter anderem bis jetzt bloss eine gewaltige Moschee, eine Kathedrale und ein paar Wolkenkratzer. Und natürlich unzählige Ministerien, die wie riesige, steinerne Monolithe aus dem Wüstensand ragen.

Viele Unternehmer sehen kein Land mehr

Schon jetzt arbeiten hier Tausende Staatsangestellte. Weil die Beamten aber nicht in der neuen Hauptstadt wohnen, steigen sie jeden Tag am späten Nachmittag in eine Flotte von Bussen, um damit vierzig Kilometer quer durch die Wüste zurück nach Kairo zu fahren. Von den geplanten Wohnvierteln existieren nur ein paar Blöcke. Und ob der Rest der Planstadt jemals fertiggestellt wird, steht ebenfalls in den Sternen.

Denn Ägypten kann sich das Prestigeprojekt längst nicht mehr leisten. Als wegen des Ukraine-Krieges 2022 an den Finanzmärkten Unruhe ausbrach, zogen viele Anleger ihr Geld aus der überschuldeten Nil-Republik ab. Mit einem Mal stand das stolze Land wie ein Bettler da. Seither versucht die Regierung verzweifelt, an Devisen zu kommen. Gleichzeitig geht sie restriktiv gegen den Schwarzmarkt vor und führte Ausfuhrbeschränkungen für Kapital ein.

Darunter leidet auch die lokale Wirtschaft. Ein 39-jähriger Kleinunternehmer aus Nasr City etwa installiert Storen und Rollläden. Früher hatte er drei Angestellte. «Inzwischen musste ich sie alle entlassen», erzählt er im Obergeschoss eines Cafés an einer Ausfallstrasse im Westen von Kairo. Er will anonym bleiben. Immer wieder dreht er sich um und überblickt den Raum. Ägypten ist ein Polizeistaat. Er will nicht, dass jemand mitbekommt, wie er die offizielle Politik kritisiert.

Die Staatsaufträge gehen an andere

«Wegen der Inflation können sich immer weniger Leute Rollläden leisten», sagt der Unternehmer. Zudem wäre er auf Importprodukte aus dem Ausland angewiesen, die immer teurer würden. «Und bevor die Regierung den Wechselkurs freiliess, musste ich meine Preise manchmal mehrmals pro Tag an den Schwarzmarktkurs des ägyptischen Pfunds anpassen.»

An die lukrativen Staatsaufträge – wie etwa beim Bau der neuen Hauptstadt – hingegen kommt er nicht heran. «Die werden an andere Firmen vergeben», sagt er nur, ohne das weiter ausführen zu wollen. Damit meint er die allmächtigen Militärs. Die Armee, der einst auch Präsident Sisi angehörte, regiert Ägypten seit den 1950er Jahren und hat längst ein eigenes Wirtschaftsimperium aufgebaut, das von der Nahrungsmittelproduktion bis hin zu Bauunternehmen reicht.

depression am nil: «wenn du im leben etwas erreichen willst, ist ägypten derzeit definitiv der falsche ort»

Ägyptens Präsident Abdelfatah al-Sisi (Mitte) beim Besuch der neuen Hauptstadt. Unter dem Ex-General hat die Armee auch in der Wirtschaft an Einfluss gewonnen. The Egyptian Presidency via Reuters

Immer wieder haben internationale Geber von Kairo gefordert, die Militärs aus der Wirtschaft zu verbannen und viele der Staatsunternehmen endlich zu privatisieren. Doch der Prozess verläuft schleppend und stösst natürlicherweise bei den Generälen und ihrem Umfeld auf Widerstand. Auch deshalb bekam Ägypten in letzter Zeit nur schwer neue Kredite.

Neue Kredite aus Europa und vom Golf

Doch nun hat der Wind gedreht. So versprach der IMF im März eine Erhöhung der Kreditlinie von 5 Milliarden Dollar. Die erste Tranche wurde bereits im April ausgezahlt. Und auch von anderswo taucht mit einem Mal wieder Geld auf. Die EU will den Ägyptern ebenfalls mit Milliardenkrediten unter die Arme greifen – als Gegenleistung für Kairos Beitritt zu einem Migrationspakt, der unter anderem die Rücknahme abgewiesener Flüchtlinge umfassen soll.

Der Grossteil des frischen Geldes kommt aber nicht aus Europa, sondern vom Golf. Insgesamt 35 Milliarden Dollar sollen die Vereinigten Arabischen Emirate Kairo zur Verfügung stellen. Allerdings kommt die brüderliche Hilfe aus dem reichen Petrostaat nicht umsonst: Ägypten muss den Emiraten dafür ein Stück wertvolles Land am Mittelmeer abtreten. Abu Dhabi will dort ein riesiges Luxusresort bauen.

«All diese Kredite wurden allerdings in erster Linie nicht aus wirtschaftlichen Gründen vergeben», sagt Ghad. Stattdessen seien sie wohl politisch motiviert. So gilt Ägypten als Stabilitätsanker im Nahen Osten – und angesichts des Krieges im benachbarten Gazastreifen hat in den europäischen und arabischen Hauptstädten niemand ein Interesse daran, dass das Riesenland am Nil im Chaos versinkt.

Zumal es schon jetzt unter dem Krieg leidet. Denn seit die jemenitischen Huthi aus Solidarität mit den Palästinensern die Schifffahrt im Roten Meer bedrohen, brechen Kairo auch noch die so wichtigen Einnahmen aus dem Suezkanal weg.

«Überall ist es besser als hier. Sogar in Albanien»

Das frische Geld könne Ägypten dabei helfen, die Auswirkungen der Krise abzumildern und zumindest die Devisenknappheit zu überwinden, sagt Ghad. An den grundsätzlichen Problemen würde es jedoch nichts ändern. Zudem wäre fraglich, ob die damit verknüpfte Forderung nach mehr Liberalisierung die lokale Wirtschaft tatsächlich stärken würde. «Die Bedingungen des IMF tragen kaum dazu bei, die Produktivität der Unternehmen zu steigern», sagt er.

Viele Ägypter glauben deshalb nicht, dass sich die Dinge bald zum Besseren wenden könnten. «Es wird eigentlich immer nur schlimmer», sagt Omar Bairam, ein freiberuflicher Fotograf in Kairo. Wie so viele muss auch er inzwischen improvisieren, um über die Runden zu kommen. Um sein Vermögen vor der Inflation zu retten, hat der 32-Jährige sein ganzes Erspartes in Stecker aus China gesteckt. Die verkauft er nun über den Elektroladen eines Freundes.

Aber eigentlich will Bairam einfach nur noch weg. «Wenn du im Leben etwas erreichen willst, dann ist Ägypten zurzeit definitiv der falsche Ort», sagt er. Durch seinen Vater habe er einen albanischen Pass. Deshalb überlege er jetzt, auszuwandern. «Überall ist es besser als hier. Auch in Albanien.»

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