AHV-Debatte: Wer arm ist, verdient nach der Pensionierung deutlich mehr

ahv-debatte: wer arm ist, verdient nach der pensionierung deutlich mehr

Reicht das Geld für den Ruhestand? Die Angst, im Alter nicht über die Runden zu kommen, ist bei vielen Menschen tief verankert. Annick Ramp / NZZ

«Migros kürzt heimlich Rabatt für Senioren», verkündete die Zeitung «20 Minuten» in dicken Lettern. So gravierend, wie die Schlagzeile vermuten lässt, fällt die Kürzung allerdings nicht aus: Einzig bei der Billiglinie M-Budget profitieren die Senioren seit Anfang Jahr von keiner Vergünstigung mehr. Auf dem übrigen Sortiment gewährt die Migros Aare den Rentnern weiterhin einmal im Monat einen Preisabschlag von 10 Prozent.

Trotzdem löste die Meldung empörte Reaktionen aus. «Den Gewinn steigern auf Kosten der Pensionierten ist völlig daneben», lautete der Tenor in den Kommentarspalten. Die finanzielle Lage der Rentner liefert Stoff für emotionale Debatten – erst recht im Vorfeld der Abstimmung zur 13. AHV-Rente. Die Zeitung «Blick» richtete gar einen Appell an ihre Leserschaft: «Du hast dein ganzes Leben lang gearbeitet, kommst mit deiner Altersrente aber kaum über die Runden? Dann melde dich gleich hier, und erzähle uns mehr!»

Die Angst vor einer drohenden Altersarmut ist bei vielen Menschen tief verankert. Zusätzliche Befürchtungen schüren Berichte, dass 200 000 bis 300 000 Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz armutsgefährdet seien. Diese berufen sich meist auf eine Auswertung des Bundesamts für Statistik (BfS), wonach 14 Prozent der über 65-Jährigen als einkommensarm gelten.

Kapitalbezug führt zu «Armut»

Diese Zahl bildet die Realität jedoch schlecht ab. Denn nicht wenige Senioren mit einer tiefen Rente besitzen ein stattliches Vermögen. Wer sich das Kapital aus der Pensionskasse auszahlen lässt, statt es als Rente zu beziehen, fällt häufig in die Kategorie einkommensarm. Dasselbe gilt für Leute, die ein Haus geerbt haben, oder für Hausfrauen, bei denen der Mann Karriere gemacht hat: Eine tiefe Rente führt nicht zwingend zu finanzieller Not.

Das BfS selbst bemängelt, es fehle ein geeignetes Konzept zur Messung der Altersarmut. In einer Analyse hält die Behörde fest: «Während 14 Prozent aller Personen im Rentenalter als einkommensarm gelten, sind lediglich 3 Prozent arm ohne Reserven für mindestens drei Monate.» Gemessen an diesem Kriterium sinkt die Zahl der Betroffenen auf lediglich 50 000.

Die Daten wirken konfus, gerade im Hinblick auf die Forderung einer 13. AHV-Rente. Wie ist insbesondere die Aussage der Initianten einzuschätzen, die heutige Altersvorsorge genüge nicht, um die Existenz zu sichern? Klärung zu dieser Frage bringt nun eine Untersuchung, die das Basler Institut für Wirtschaftsstudien (IWSB) im Auftrag des Bundes erstellt hat. Die Analyse hat den grossen Vorteil, dass sie gar nicht erst versucht, die Rentner in die Kategorien «arm» oder «nicht arm» einzuteilen – was je nach Messmethode zu ganz anderen Resultaten führt.

Die Veränderung des Einkommens im Fokus

Stattdessen hat der Studienautor Nils Braun die wirtschaftliche Lage der Menschen unmittelbar vor beziehungsweise nach der Pensionierung untersucht: «Wir wollten herausfinden, in welchem Ausmass der Übertritt ins Rentenalter zu einer finanziellen Verbesserung oder Verschlechterung führt. Daraus lässt sich ein Urteil über die Qualität der Altersvorsorge ziehen.»

Als Grundlage dienen unter anderem die Steuerdaten von 400 000 Personen aus elf Kantonen über einen Zeitraum von vier Jahren. Das liquide Vermögen wird zu 5 Prozent beim Einkommen hinzugerechnet. Somit lautet die Annahme, dass diese Ersparnisse innert 20 Jahren aufgebraucht werden. Beim durchschnittlichen Haushalt führt der Rentenübertritt mit dem erstmaligen AHV-Bezug – wenig überraschend – zu einem Einkommensrückgang von 5 Prozent auf noch 67 600 Franken. Interessanterweise liegt dieses mittlere Einkommen immer noch leicht höher als in der Gesamtbevölkerung, wo ein Haushalt auf 64 400 Franken im Jahr kommt.

Der Fokus der Studie liegt indes auf jenen Personen mit wenig Geld. Als prekär gilt die Lage, wenn das Einkommen 60 Prozent des landesweiten Durchschnitts unterschreitet, in der Studie liegt diese Grenze bei 38 700 Franken. Das bemerkenswerte Ergebnis: Während vor der Pensionierung 9 Prozent der untersuchten Haushalte in prekären Verhältnissen leben, sind es danach nur noch 7 Prozent.

Weiter zeigt die Studie: Viele Haushalte in jener Gruppe mit geringen Mitteln können ihre finanzielle Situation dank dem Rentenübergang sogar deutlich verbessern: Bei den Alleinstehenden steigt das Einkommen im Schnitt von 28 300 auf 37 800 Franken. Bei den Paarhaushalten beträgt die Zunahme 16 000 Franken, und das Einkommen erreicht nach der Pensionierung 55 600 Franken.

«Die Kategorie umfasst primär Working Poor, also Leute aus dem Niedriglohnsektor, sowie Selbständige, Bauern oder Bezüger einer Invalidenrente», erklärt Nils Braun. «Für diese Menschen bedeutet die Pensionierung vielfach einen wirtschaftlichen Aufstieg. Dies verdeutlicht, dass das System der Altersvorsorge gut funktioniert und auch armutsgefährdete Menschen im Alter nicht durch das soziale Netz fallen.»

Zwar müssten diese Leute auch im Ruhestand knapp kalkulieren, betont Braun. «Es fällt aber auf, dass gerade in jener Gruppe der Anteil der Frühpensionierungen überdurchschnittlich hoch ist. Denn wer in bescheidenen Verhältnissen lebt, kann seine Einkünfte dank der Altersrente oftmals steigern.»

Eine wichtige Rolle spielen dabei die Ergänzungsleistungen (EL). Diese sichern zusammen mit der AHV das Existenzminimum im Ruhestand. Von den Neurentnern beziehen 8 Prozent EL. Mit dem Alter steigt der Anteil an, vor allem wegen der Zunahme an Pflegefällen. Für Kontroversen sorgt bisweilen, dass die EL erst ausbezahlt werden, wenn das Vermögen unter 100 000 Franken fällt, bei Paaren liegt diese Grenze bei 200 000 Franken.

Das Existenzminimum beträgt zum Beispiel für eine in Basel wohnhafte alleinstehende Person rund 45 000 Franken bzw. 66 000 Franken für ein Ehepaar. Der Betrag setzt sich zusammen aus dem allgemeinen Lebensbedarf, einem regional abgestuften Höchstbetrag für die Miete sowie der Prämie für die Krankenkasse. Ebenfalls erstattet werden weitere mögliche Krankheits- oder Zahnarztkosten sowie die Radio- und TV-Gebühren.

Zwar seien die EL knapp bemessen und erlaubten keine grossen Sprünge, sagt der Vorsorgeexperte Jérôme Cosandey von der Denkfabrik Avenir Suisse. Dafür aber würden die Betroffenen zielgerichtet unterstützt: «Das Narrativ der Gewerkschaften, wonach alle EL-Bezüger als arm gelten, halte ich für falsch.»

Zudem müsse die Sozialpolitik neben dem Ziel der Existenzsicherung auch die Anreizwirkungen berücksichtigen, so Cosandey: «Wer sparsam gelebt und viel gearbeitet hat, erhält im Pflegeheim oft die gleiche Behandlung wie jemand, dessen Kosten vom Staat getragen werden.» Man müsse daher verhindern, dass sich eigenverantwortliches Handeln nicht mehr lohne.

Bei den Ergänzungsleistungen können solche Ungerechtigkeiten dadurch entstehen, dass sie nicht versteuert werden müssen. Jemand, dessen Rente knapp über der EL-Berechtigung liegt, bezahlt je nach Wohnort bis zu 5000 Franken Steuern. Womit er netto schlechter dasteht als ein EL-Bezüger.

Jüngere leiden häufiger unter Entbehrungen

Plakative Aussagen zur Altersarmut greifen also meist zu kurz. Aussagekräftiger sind stattdessen Analysen, welche die Lebenssituation der Rentner unter die Lupe nehmen. So hat der Bund detailliert untersucht, wie stark über 65-Jährige unter materiellen Entbehrungen leiden. Laut Auswertung können sich 7 Prozent nicht mindestens einmal pro Jahr eine Woche Ferien leisten. 4 Prozent sind nicht in der Lage, jede Woche etwas Geld für sich selbst auszugeben. Und 1 Prozent sagt, eine Konsultation beim Zahnarzt liege für sie nicht drin.

Was auffällt: Bei all diesen Punkten stehen die Pensionierten besser da als die Gesamtbevölkerung. So bezeichnen nur gerade 3 Prozent der Personen über 65 ihre finanzielle Zufriedenheit als «gering» – gegenüber 6 Prozent beim Rest. Zwar könnte dieser Unterschied auch daher kommen, dass Rentner genügsamer sind und weniger Ansprüche stellen als die jüngeren Semester. Trotzdem lassen die Statistiken vermuten, dass Senioren weniger auf vergünstigte M-Budget-Produkte angewiesen sind als beispielsweise junge Familien.

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